Der Wechselkurs: Das beste Argument. Produzent Maunu hatte einige Ideen für die Wire-Train-Songs, verhandelte mit Plattenboss Howie Klein von 415 Records – das Label gehörte zum Columbia-Konzern – und bekam schließlich den Auftrag für die Produktion. Als Maunu ein Studio für die Aufnahmen für „Between Two Words” suchte, fiel die Entscheidung rasch auf Wien. Das hatte auch einen sehr pragmatischen Grund: Die Kosten für Studiomiete, Aufenthalt und Flüge für die Band und alle Begleiter waren in Summe noch immer deutlich billiger als eine Albumproduktion in San Francisco. „Ich glaube“, so Maunu, „das Studio hat für fast einen Monat gerade mal 10.000 Dollar Miete gekostet. Selbst die Mixes machten wir in Wien und blieben trotzdem immer noch im Budget.“
Das Album: Between Two Words. Einen Monat lang probte die Band in San Francisco, perfekt vorbereitet reiste sie samt Entourage und Tontechniker Ken Kersey im Sommer 1985 nach Wien. Wire Train wohnten gemeinsam in einem großen Apartment in der Gumpendorfer Straße, ein Jugendstil-Gebäude mit fast fünf Meter hohen Räumen. „Es gab fünf riesige Zimmer, aber die waren großteils leer“, erinnert sich Bassist Anders Rundblad. „Keine Möbel, nur so Matratzen am Boden. Es lebten auch viele alte Leute im Haus, und wann immer man die Treppe hochging oder im Stiegenhaus etwas lauter sprach kam jemand raus und sagte: ‚Pssst!‘.“ Das Motiva Studio in der Mahlerstraße bei der Wiener Oper, wo die Aufnahmen stattfanden, war zu Fuß leicht erreichbar. Die Jungs, alle Mitte 20, trauten ihren Augen nicht: Das Studio teilte sich damals die Lobby mit einer Model-Agentur: „Wir gingen rein und da waren auf einmal jede Menge bildhübscher Mädchen“, schwärmt Kevin Hunter noch heute. „Auch das Studio selbst in diesem historischen Gebäude war großartig, mit neuestem Equipment und Katakomben im Keller, wo Tauben nisteten.“
Das Problem: Die Zeitverschiebung. Die erste Woche plagte alle der Jet-Lag. Besonders Schlagzeuger Brian McLeod konnte tagelang kaum schlafen und bekam eine Sehnenscheidenentzündung. „Die Stimmung war richtig schlecht, wir waren alle fertig“, bringt es Hunter auf den Punkt. Bassist Anders Rundblad, heute 63, der aus Schweden stammt und erst mit 25 Jahren nach San Francisco zog: „Die Zeit in Wien war großartig und ‚Between Two Words‘ das beste Album, das wir je aufgenommen haben.“ Dafür sei vor allem Peter Maunu verantwortlich: „Er war ein sehr musikalischer Produzent. Und der Gesang von Kevin auf ‚Last Perfect Thing‘ oder ‚Skills of Summer‘ sind wahrscheinlich die besten Vocals, die er je aufgenommen hat.“ Rundblad kannte Wien bereits durch Interrail: Damals konnten Jugendliche und Studenten für wenig Geld ein Ein-Monats-Ticket für die Bahn kaufen und damit im Zug durch ganz Europa fahren, im Schlafsack oder in Hostels übernachten und so den Kontinent sehen.
Die Aufnahmen in Wien liefen anfangs nach Plan. „Das waren Profis“, erinnert sich Franz Tvarocska an Wire Train. Der spätere Manager von Künstlern wie Mo war damals Assistant Manager im Motiva Studio: „Kevin Hunter war ein extrem charismatischer Sänger. Obwohl sie sehr gut vorbereitet waren, experimentierten sie immer wieder. Die Beatles waren Vorbilder, und so fragten sie sich manchmal: Wie hätten die Beatles das gemacht?“ Auch Peter Paul Skrepek, heute Präsident der Musikergilde und langjähriger Gitarrist Falcos, der beim Dylan-Cover „God On Our Side“ akustische Gitarre spielte, erinnert sich: „Die waren eine wilde Partie, haben aber wirklich gut gespielt.“ Anders, der Bassist, war bald mit seinen Aufnahmen fertig: „Das Studio lag direkt an der Fußgängerzone (Anm.: Kärntner Straße), wo all die verschiedenen Gruppen Musik machten. Speziell an einen Typen erinnere ich mich, er hieß Lercherl, hatte eine hohe Falsettstimme und sang dort jeden Tag. Die Leute erzählten sich, er hätte in seiner Jugend Syphilis gehabt und sei so verrückt geworden.“
Das Drama: Wie bei John & Yoko. Es wären nicht die Achtzigerjahre, wenn es in Wien nicht zum Eklat gekommen wäre. Kurt Herr, der zweite Sänger und Songwriter von Wire Train, nahm seine Frau Tianna mit nach Wien. Eine Art „fatale John-Lennon-Yoko-Ono-Liebe“, beschreibt Produzent Peter Maunu die Liaison, die dann fast die ganze Band sprengen sollte: „Es gab Spannungen. Alle spielten sich den Arsch ab und sangen großartig und das meiste von Kurts Sachen war brauchbar und klang gut. Aber er war einfach wütend“, so Maunu. Hunter, noch heute empört: „Tianna begann alle Texte umzuschreiben und sich als ein weiteres Bandmitglied zu sehen.“ Bassist Rundblad sieht es nüchterner: „Sie war einfach verrückt. Wir sind nach Wien gegangen, um Kurts Frau loszuwerden, und als wir am Flughafen in Oakland ankamen, war sie da: Er brachte die Verrückte tatsächlich nach Wien mit. “ Der Streit eskalierte, Schreiduelle folgten, bis Kurt Herr mitten in den Aufnahmen seine Sachen packte und mit Tianna zurück nach Kalifornien flog. „Es brach die Hölle los“, sagt Produzent Maunu heute. „Also begann ich Kurts Gitarrenparts zu spielen. Kurt wollte mehr in Richtung U2 und Tears for Fears gehen.“
Nachts hingen Wire Train in Wiens Kultclub U4 ab. Conny de Beauclair, damals Türsteher, heute Fotograf, fand in seinem Archiv sogar Aufnahmen des Wire-Train-Konzerts: „Sie spielten am 30. Juni 1985 live im U4. Der Klub war voll, die Band großartig.“
Die Nächte: Kevin Hunters Wiener Liebe. Das fand auch Christine, die damals im U4 arbeitete. Hunter und die schöne Wienerin wurden ein Paar: „Christine ist einer der außergewöhnlichsten Menschen, die ich je getroffen habe. Sehr intelligent, mit Stil und obendrein voller Freundlichkeit. Sie ist jemand, der will, dass man ein besserer Mensch wird. Ich wusste sofort, als wir uns trafen, dass ich so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen möchte.“
Mit Christine überlegte er, nach Italien zu gehen, fuhr mit ihr stundenlang Motorrad über Landstraßen: „Ich hatte eine Klausel im Vertrag, die mir alles Gefährliche während der Aufnahmen verboten hatte. Wir sind trotzdem losgezogen. Christine wusste genau, was in Wien los war. Es waren unglaubliche Tage, an denen man manchmal betrunken war, Musik hörte, im U4 saß, tanzte. Was für ein großartiger Club! Conny und die Typen im U4 gaben uns das Gefühl, als wären wir die Rolling Stones. Wir wurden immer nach vorne geholt und hatten einen tollen Platz.“