Geben Sie mir ein Beispiel?
Mit 15, 16 Jahren habe ich zum ersten Mal wieder Indien besucht. Einer meiner Freunde hatte sich gerade ein Moped gekauft. Er war extrem aufgeregt und wollte mit mir unbedingt eine Probefahrt machen. Normalerweise würde man bei Schlaglöchern auf der Straße abbremsen, er aber hat so lange beschleunigt, Pirouetten gedreht und ist geschleudert, bis mir schlecht geworden ist. Mein Magen, der mittlerweile natürlich amerikanisiert war, war sowas nicht mehr gewöhnt. Ich musste mich übergeben. Plötzlich kam ein völlig fremder Mann auf dem Fahrrad auf mich zu. Er sprach kein Wort, ging nur zu einem Obststand und kaufte eine Zitrone. Er kam zu mir und flößte mir den Saft einer halben Zitrone ein. Dann packte er die andere Hälfte der Zitrone ein und fuhr wortlos weiter. Ich habe mich viel besser gefühlt und war beeindruckt. Ich fand sein Verhalten wunderschön. Er hat es einfach getan, nicht geknüpft an Bedingungen oder Gegenleistungen. Er wollte mir nur helfen. Er nahm die zweite Hälfte der Zitrone für seine Familie mit. Er hatte nichts und wollte trotzdem mit mir teilen. Da dachte ich mir: So will ich sein, wenn ich erwachsen bin.“ So sanft, so großzügig, so demütig, so mitfühlend und so liebevoll.
Und ist es Ihnen gelungen?
(lacht) Ich arbeite noch immer dran. Ich versuche es schon seit Jahrzehnten. Es ist ein langer Weg. Wir werden alle sterben und können nichts mitnehmen. Wenn du dich aber um andere wahrhaftig kümmerst und sorgst, bekommst du diese innere Ausgeglichenheit. Ich fühle mich in meinem Leben sehr glücklich, ich bin mit dem Leben und mit so vielen Menschen verbunden. Wir gehören alle zusammen. Je großzügiger ich bin, desto mehr fühle ich mich verbunden. Normalerweise sind wir großzügig, weil wir uns Anerkennung erhoffen, wir erwarten uns eine Art Gegengeschäft. Das sind die konventionellen Muster, in denen wir denken. Für mich aber war die Erleuchtung, als ich erkannt habe, dass das Geben einen Effekt auf mein Inneres hat. Es ist wunderschön zu sehen, dass auch die kleinste gute Tat mich verändert und ich so zu einem besseren Menschen werde.
Verändert Güte, Freundlichkeit und Großzügigkeit generell Menschen?
Wenn du noch nicht viel Sozialarbeit geleistet hast, denkst du dir oft: Ich will nur helfen, doch diese Menschen sind einfach gemein zu mir. Aber mit der Zeit, wenn du so weit bist, mehr in die Tiefe zu gehen, wird dir klar: Verletzte Menschen verletzen Menschen. Sie sind selbst schlecht behandelt worden, sie kennen es nicht anders und geben diese Verletzungen weiter. Wenn wir diesen Gedanken weiterdenken, bedeutet das: Verletzte Menschen verletzen Menschen, aber geheilte Menschen heilen Menschen. Wenn die Verletzungen einer Person herauskommen und ich ihr mit Güte und Freundlichkeit entgegentrete, gelingt es mir vielleicht diesen Kreis der Negativität mit Liebe zu durchbrechen. Wird sich die Person sofort verändern? Sicher passiert das manchmal, aber nicht immer. Vielleicht geht diese Person aber nach Hause und ist dann zu seiner Familie und zu seinen Kindern liebevoller. Durch dein liebevolles Verhalten wirst du vielleicht den anderen nicht sofort verändern, aber wenn du der Person konstant mit Liebe begegnest, dann vervielfachst du die Treibkraft der Liebe. Und das ist unglaublich.
Was hat Sie denn bei Ihrer Pilgerreise am meisten beeindruckt?
Wenn du am Rande deiner Belastbarkeit bist, ist es unglaublich zu sehen, wenn Menschen in bedingungsloser Liebe agieren. Menschen, die selbst nichts zu essen haben und sich Nahrung von anderen erbetteln, um dich zu füttern, weil sie jeden, der an ihre Türe klopft, als Ausdruck des Göttlichen sehen. Sie sind glücklich geben zu dürfen und glücklich mit dir verbunden zu sein.
Was haben Sie daraus gelernt?
Erstens: Geben macht glücklich und es hat genau nichts damit zu tun, wie viel du selbst hast. Zweitens: Je offener und großzügiger du bist, desto tiefer werden deine Verbindungen mit anderen sein. Wenn du ein großes Ego hast, wenn du laut bist, wenn du berechnend bist und Dinge nur tust, weil du daraus deinen Nutzen ziehen möchtest, dann koppelst du dich von der Welt ab. Geiz wird erlernt, aber Großzügigkeit steckt in uns, sie muss nur entdeckt werden.
Woran glauben Sie?
Ich glaube an die Liebe und ich glaube, dass wir alle miteinander verbunden sind. Ich glaube, dass die Grenzen zwischen den Menschen irreal sind. Wo starten deine Gedanken und wo hören meine auf? Wenn wir tief in uns gehen, merken wir, dass die Grenzen fließend sind.
Glauben Sie an Gott?
Es kommt darauf an, wie Sie Gott definieren. Wenn Gott Barmherzigkeit, Freude, Güte und Friede ist: Das alles ist unsere grundlegende Natur. Wenn Sie das Gott nennen wollen, dann glaube ich daran. Für mich ist es die formlose Essenz, die uns alle miteinander verbindet. Wenn du es Gott nennen möchtest und es dir besser vorstellen kannst, wenn du ihn personalisieren kannst, dann ist es auch gut. Ich kenne so viele Mönche der verschiedensten Religionen und alle haben eines gemeinsam: Sie sprechen über ein Gefühl, das immer friedlich, gütig und großzügig ist, keine Grenzen kennt und sich von mir zu dir entfaltet.
Wer hat Sie bisher am meisten beeindruckt?
Der amerikanisch-chinesische buddhistische Mönch, Reverend Heng Sure. Er war auf Pilgerreise, hat immer drei Schritte gemacht, dann ist er auf seine Knie gegangen und hat sich verbeugt. 800 Meilen ist er so quer durch Kalifornien gegangen, zwei Jahre und neun Monate hat diese Reise gedauert. Sein Ziel war es, in jeder Situation mit Mitgefühl zu reagieren. Drei Mal ist Reverend Heng Sure während seiner Pilgerreise mit einer Waffe bedroht worden. Seine Reaktion war unglaublich, er meinte nur: „Dass du jetzt diesen Abzug drücken möchtest, dahinter steckt eine lange Leidensgeschichte. Meine Aufgabe ist es, deine lange Leidensgeschichte mit Güte zu neutralisieren. Das ist mein Versprechen.“ Mich hat dieses Verhalten überwältigt. Ich war von dieser menschlichen Liebesfähigkeit überwältigt. Wie kann man nur so sehr lieben, dass du in so einer Situation bereit bist, das Leiden des anderen übernehmen zu wollen? Er hat auf das Verhalten nicht nur mit Gelassenheit reagiert, sondern hat in der Sprache der Liebe geantwortet. Stellen Sie sich vor so zu sein: Wie weit muss dieser Mensch sein? Solche Menschen verkörpern die pure Liebe. Und wir sollten wissen, dass wir das auch können.
Fällt Ihnen noch ein Beispiel ein?
Bruder David Steindl-Rast, ein in Österreich geborener Benediktiner-Mönch. Er spricht viel über Dankbarkeit, unter anderem auch vor großem Publikum in TED-Talks. Ich habe ihm die Frage gestellt: Meditieren Sie? „Ja, das mache ich“, hat er gemeint. Wann wissen Sie denn, wann es Zeit ist, mit dem Meditieren aufzuhören? Er antwortete: „Du weißt es einfach.“ Was meinen Sie damit?, fragte ich ihn. „Manchmal meditiere ich für einen Augenblick und bin fertig, manchmal ein paar Minuten, manchmal ein paar Stunden, manchmal ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen, manchmal ein paar Jahre.“ Jahre? Ich konnte es nicht fassen. Er sagte: „Ja. Einmal habe ich 14 Jahre meditiert.“ Wenn du solche Menschen triffst, wird dir klar, dass die Menschheit auf den Schultern solcher spirituellen Giganten getragen wird und die schlechten Nachrichten, die wir täglich in den Medien hören, nur ein Teil der Realität sind.
Haben Sie denn nie das Bedürfnis etwas zu wollen, zu besitzen oder zu kaufen?
Doch, ich habe viele Sehnsüchte. Ich liebe Süßigkeiten, ich liebe Kuchen. Ich bin weit davon entfernt, perfekt zu sein. Was du aber mit der Zeit lernst, ist, dich zu beobachten. Wenn du unbedingt etwas möchtest und es bekommst, bemerkst du, dass deine Sehnsüchte überbewertet waren. Egal, was es ist: ein neues Outfit, ein Haus, ein Auto – wenn du es letztendlich bekommen hast, ist es eine Enttäuschung. Ich habe das so oft erlebt, sogar beim Meditieren. Dann bemerkst du: Die Magie liegt in der Freude, nicht im Ziel.
Barack Obama wollte Sie in seinem Beraterteam haben.
Ich hatte nie das Ziel, ins Beraterteam von Obama zu kommen. Es ist einfach passiert. Es war ein simples E-Mail, in dem mir mitgeteilt worden ist, dass ich für sein Team nominiert worden bin. Ich dachte zuerst, dass es ein Spam-Mail ist. Ich meine, ein Mail an mich vom Weißen Haus? Ich konnte es nicht glauben. Sie haben sich die Website von ServiceSpace angesehen und mir geschrieben, dass sie glauben, dass ich perfekt in Obamas Team passen und mein Wissen ihre Arbeit bereichern würde. Wir haben also Dutzende Konzepte erstellt, wie man von einer geschäftsorientierten Welt in eine zwischenmenschlichere kommt, eine Welt des tieferen Engagements. Wir haben ein 70-seitiges Papier erstellt, mit fantastischen Ideen und haben so eine Diskussion gestartet. „Kapital bedeutet nicht nur finanzielles Kapital“, war eine der Botschaften, die Barack Obama öffentlich gemacht hat. Leider war der nächste Präsident Republikaner und das Klima hat sich verändert.
Wie denken Sie über Trump?
(lacht) Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll … Bleiben wir beim Positiven: Gut ist, dass das, was bisher im Dunkeln war, ans Licht kommt. Rassismus bekommt zum Beispiel wieder eine Stimme, und das wiederum bietet uns die Möglichkeit, ihn zu heilen. Bis jetzt waren all diese Themen versteckt, aber sie waren da. Jetzt haben sie die Chance, an die Oberfläche zu kommen und so geheilt zu werden. Ich hoffe, dass nicht zu viel Leiden geschaffen wird, wie es momentan scheint, denn wenn man sich die Welt ansieht, merkt man einen Trend zu einem gewissen Typ Führungspersönlichkeit. Der starke Mann ist gerade wieder gefragt.
Wie sehen Sie die Zukunft?
Ich bin sehr optimistisch. Ich habe keine Angst. Vielleicht wird es eine Phase der Transformation geben, eine Zeit des Leidens oder der Veränderung, aber wie hat Martin Luther King Junior gesagt: „Der moralische Bogen des Universums beugt sich immer in die Richtung der Gerechtigkeit.“ Ich würde dieses Zitat sogar erweitern: „Der moralische Bogen beugt sich immer in die Richtung des Mitgefühls.“ Mitgefühl ist unsere Natur und wir sind auf der Reise, das zu entdecken. Wir fühlen uns zwar manchmal isoliert und einsam und haben das Gefühl, unsere persönliche Identität sei beeinträchtigt, aber eines Tages werden wir darüber hinauswachsen und merken, dass es bessere Wege gibt. Es hat auch 5.000 Jahre gedauert, bis wir darauf gekommen sind, Taschen mit Rollen auszustatten. Es ist eine ganz einfache Erfindung, die uns das Reisen extrem erleichtert, und genauso gibt es viele einfachere, höhere Wege, die besser für uns funktionieren würden. Wir haben sie einfach noch nicht entdeckt, aber wir sind auf dem Weg dorthin.
Ist Zukunftsangst angebracht?
Auf keinen Fall. Angst hilft nicht weiter. Wir müssen nur in uns selbst schauen: Wir haben Angst und Liebe in uns. Wenn wir genau darüber nachdenken, ist die Liebe weit stärker als die Angst. Wir müssen uns nur fragen, wie wir unser persönliches Leben gestalten wollen und unsere Ansprüche an uns selbst höherschrauben. Wir sollten zwar unsere Urinstinkte nicht verleugnen, aber es sollte uns bewusst sein, wozu wir fähig sind. Wir sind nicht mal annähernd an unsere spirituellen Grenzen gestoßen. Wir können verzeihen, wir können mitfühlend sein und verbindend. Unsere Aufgabe ist diese Ebene zuzulassen, schon bei Kleinigkeiten. Halten Sie dem Nächsten die Türe auf, heben Sie den Bleistift auf, wenn er jemandem runterfällt, machen Sie Tee für Ihre Ehefrau. Kleine Gesten der Liebenswürdigkeit verändern nicht nur die Welt da draußen, sondern auch Ihr Inneres.