Es ist der Ort, an dem jeden Tag Meinung gemacht wird, und für viele Amerikaner die letzte Bastion, wenn es um Wahrheit geht. Der New York Times Tower in Midtown Manhattan an der Eighth Avenue, von Renzo Piano entworfen, ist mit 319 Meter das fünfthöchste Gebäude New Yorks. Es ist der Sitz der angesehensten Tageszeitung der Welt, mit der sich der amtierende US-Präsident Donald Trump seit seiner Amtsübernahme einen Privatkrieg liefert, die er „gescheitert“ nennt und der er sinkende Verkaufszahlen wegen der angeblich über ihn verbreitenden Fake News vorwirft.
Höher als der Trump-Tower. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Nach der US-Wahl meldete die New York Times online Rekordzugriffe und den Abschluss Zehntausender neuer Abos, sowohl digital als auch für die Printausgabe. So bekommt der 52 Stockwerke hohe New York Times Tower durchaus auch symbolischen Charakter: Er überragt den Trump Tower des Präsidenten an der Fifth Avenue gleich um 117 Meter. Und nachdem für Trump vor allem Größe und Schein zählen, wird selbst das als Demütigung empfunden.
Leuchtturm der Hoffnung. In der Redaktionskonferenz der New York Times sitzt Chefredakteur Dean Baquet mit seinem Team und bespricht jene Themen, die die Welt bewegen. Oder noch bewegen werden, wenn die wichtigste Tageszeitung Amerikas am nächsten Tag erscheint. Seit vier Jahren macht er diesen Job, doch erst seit Präsident Trump sein Amt übernommen hat, wurde Baquet zu einem Leuchtturm der Hoffnung und zum Symbol eines freien, unabhängigen Journalismus.
Gerade erst wurde er mit dem „Freedom of the Press Award“ ausgezeichnet. „Dean verkörpert nicht nur das Beste im Journalismus“, sagt Bruce Brown, Vorsitzender der Jury, „sondern er erweckt diese Qualität auch in allen, die ihn umgeben.“ Seit vier Jahrzehnten ist Dean Baquet Journalist, damals begann er für die Times-Picayune, eine Tageszeitung in New Orleans, zu schreiben. Stationen bei der Chicago Tribune, der New York Times und der Los Angeles Times folgten.
Digitales Powerhouse. Unter Baquets Führung wurde die New York Times zur wichtigsten Tageszeitung der Welt. Der Pulitzer-Preisträger transformierte das mediale Schlachtschiff von einer gedruckten Zeitung zu einem digitalen Powerhouse. Und das, ohne bei der Qualität des Journalismus Abstriche zu machen. Auch in der Berichterstattung hatte die New York Times immer wieder die Nase vorn. So deckte sie den Einfluss Russlands bei den Präsidentenwahlen auf oder Harvey Weinsteins sexuelle Übergriffe gegen Dutzende Schauspielerinnen.
Fake News. Mit seinen Berichten über das Weiße Haus machte sich Baquet den Präsidenten zum Gegner. „Wir werden die Fake News bekämpfen“, verkündete Trump, an die New York Times gerichtet, zu seinem Amtsantritt. „Sie sind die Feinde des Volkes.“ Schon im Wahlkampf sagte Trump dem Medienschlachtschiff den Bankrott innerhalb der nächsten drei Jahre voraus. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wann immer Trump über die New York Times tobt, geht der Verkauf am Kiosk nach oben und die Online-Zugriffszahlen in lichte Höhen.
In der Redaktionskonferenz. Der Glaspalast an der Eighth Avenue beherbergt die größte Zeitungsredaktion der Welt mit fast 1.250 redaktionellen Mitarbeitern. Die Atmosphäre in der Redaktionskonferenz ist locker und unaufgeregt, 45 Journalisten, Ressortleiter, Redakteure, Reporter und die Fotoredaktion sitzen in hellgrünen Bürostühlen um einen quadratisch angelegten überdimensionierten braunen Tisch. Indirektes Licht erhellt den fensterlosen Raum. Manche haben Laptops mit, doch die meisten machen ihre Notizen auf Blöcke. Das Büro in Washington ist per Telefon zugeschaltet, Elisabeth Bumiller, die Bürochefin in der Hauptstadt, schildert ihre neuesten Recherchen über Trump. Professionell wird ein Thema nach dem anderen abgearbeitet, jeder Ressortchef kommt zu Wort und stellt die Storys für morgen vor.
Als eine Reaktion auf die Attacken Trumps baute die Zeitung für fünf Millionen Dollar in Washington einen Investigativpool auf.
The Fourth Estate. Gerade erst wurde die Dokumentation „The Fourth Estate“ am Tribeca-Filmfestival vorgestellt, die einen tiefen Einblick in die Berichterstattung der New York Times über das erste Jahr der Trump-Administration im Amt gibt. Es ist der erste Teil einer vierteiligen Serie, die auf dem US-Kabelkanal Showtime ausgestrahlt wird. Robert Redford hat die Dokumentation hymnisch gelobt. Dazu erhielt die New York Times zusammen mit dem New Yorker eben den Pulitzer Preis für ihre Enthüllungen über Harvey Weinstein, die zur #metoo-Bewegung führten. Es ist der 117. Pulitzer-Preis in der Geschichte der 1851 gegründeten Zeitung und die Redaktion damit die höchstdekorierte der Welt.
300.000 Dollar für einen Fisch. Die nachmittägliche Redaktionskonferenz, an der wir teilnehmen und die um 16.30 Uhr beginnt, dauert knapp 40 Minuten, dann ist alles klar und jeder weiß, was zu tun ist. Die Fotoredaktion zeigt noch schnell die wichtigsten Bilder und Images für die nächste Printausgabe. Kein politisches Thema, kein Donald Trump soll an diesem Tag für die heftigste Diskussion und das größte Interesse in dieser illustren Runde der wohl besten Journalisten Amerikas sorgen, sondern der teuerste Aquariumfisch der Welt. Der Arowana, ein südamerikanischer Süßwasser-Raubfisch, ist bis zu 1,20 Meter lang und wird in China als „Drachenfisch“ verehrt. Er sieht unspektakulär aus, fast wie ein überdimensionaler Goldfisch, ist aber so begehrt, dass die Besitzer sogar kosmetische Operationen wie ein Augenlifting bei ihren Fischen machen lassen. Eugene Ng in Singapur, der von seinen Klienten „Dr. Ark“ nach seinem gleichnamigen Schönheitssalon genannt wird, sei einer der führenden Schönheitschirurgen für Eingriffe dieser Art. Für den teuersten Drachenfisch der Welt soll ein chinesischer Liebhaber 300.000 US-Dollar bezahlt haben. Preise dieser Größenordnung seien keine Seltenheit. Das ist selbst für die allerhand Spleens und Schamlosigkeiten gewohnten New York Times-Journalisten ein Tick Verrücktheit zu viel. Der Arowana bringt es am nächsten Tag bis auf die Titelseite.
Baquet begrüßt OOOM. Zum Schluss der Redaktionskonferenz begrüßt Dean Baquet vor versammelter Runde noch seine “Kollegen aus Österreich”. Er blättert unser Magazin durch, bleibt an einer Story über den Dalai Lama hängen. „Sehr hochwertig gemacht“, analysiert er das Heft. Dann muss er zum nächsten Meeting.
Wir gehen in ein gläsernes Besprechungszimmer im selben Stockwerk. Durch die Glaswände bekommt man einen Einblick in die Größe der Redaktion und ein Gefühl, wie viele Menschen hier an der Entstehung der New York Times mitarbeiten. An Sonntagen verkauft die Tageszeitung noch immer über eine Million Exemplare, während der Woche etwas mehr als die Hälfte. 27 Etagen des Towers belegt die New York Times selbst, der Rest der Fläche wurde vermietet. Die Redaktionszentrale erstreckt sich über drei Stockwerke als High-Tech-Newsroom. Über 30 Druckmedien und zahlreiche Onlineportale werden im Tower produziert.
Globale Newsorganisation. Jodi Rudoren kommt ins Zimmer, eine Tasse Kaffee in der Hand, und begrüßt uns. Sie ist ein Veteran bei der New York Times, seit 1998 ist sie Teil der Redaktion. Als Editorial Director von New York Times Global ist sie dafür verantwortlich, die internationale Leserschicht weltweit zu vergrößern und aus der „Times“ eine globale Newsorganisation zu machen. Als Associate Managing Editor gestaltet sie auch das tägliche Printprodukt maßgeblich mit.