„Who’s that guy, Everhearter?“ war ihre erste Frage, als ich ihr erzählte, wer ihre Laudatio halten soll. Wir schreiben das Jahr 2009 und die Erste Allgemeine Verunsicherung ist noch immer eine respektable Größe der heimischen Popkultur, „Everhearter“ ist deren Sänger, erklärte ich ihr. Den In-Ear-Clip, der die deutsche Laudatio in lupenreines Englisch simultan in ihre Gehörgänge transportieren sollte, lehnte sie dankend ab. „Ich kenne all die Storys über mein Leben, ich brauch das nicht auch noch zu verstehen.“ Sie lachte. Ich lächelte. Wir mochten uns irgendwie. Wir saßen in der ersten Reihe, meine Frau Christina (Anm.: heute CALL-Herausgeberin) direkt rechts neben Marianne, ich einen Sitz weiter, links von ihr saß ihr Begleiter aus Paris, den sie irgendwie zum Mysterium machte.
Das Leben nach dem Krebs. Marianne Faithfull stand kurz vor ihrem 63. Geburtstag. Ich produzierte damals die Women’s World Awards 2009 zum Weltfrauentag im März in der Wiener Stadthalle, einen Preis, den ich mit Michail Gorbatschow, Friedensnobelpreisträger und letzter Präsident der Sowjetunion, 2004 ins Leben rief. Unsere internationale Jury hatte beschlossen, den „Lifetime Achievement Award“ in diesem Jahr an Marianne Faithfull zu verleihen. „Ich fühle mich sehr geschmeichelt“, schrieb sie mir einige Wochen vor der Verleihung aus Paris. „Der Preis bedeutet mir sehr viel nach der schweren Zeit, die ich hinter mir habe. Ich freue mich auf Wien“. Die „schwere Zeit“ war eine überstandene Brustkrebserkrankung, die im September 2006 bei ihr diagnostiziert wurde. „Zum Glück in einem sehr frühen Stadium“, wie sie mir später erzählen sollte. Sie konnte den Krebs besiegen. Davor kämpfte sie bereits jahrelang mit Hepatitis C. Auf sich zu achten war zeitlebens nicht ihre höchste Priorität. Wir saßen am Tag der Veranstaltung beisammen und führten ein sehr offenes Gespräch. „Ich habe ein wunderbares Leben hinter mir, mit vielen Dummheiten und Risiken“, lächelte sie. „Ich habe mich nie um meine Gesundheit gekümmert und einfach nur viel Glück gehabt.“
Auf Höhenflug. 2009 war Marianne Faithfull nach vielen Hochs und noch mehr Tiefs in ihrem Leben wieder im Höhenflug. Sie hatte erst zwei Jahre zuvor mit der Tragikkomödie „Irina Palm“ ein von Feuilleton und Publikum umjubeltes Comeback gefeiert. Faithfull spielte darin eine biedere Mittfünfzigerin, die in einem Sex-Club Männer durch ein Glory Hole mit der Hand befriedigt, um die medizinische Behandlung ihres todkranken Enkels zu finanzieren. Sie legt sich dabei den Künstlernamen „Irina Palm“ zu und wird durch ihre Fingerfertigkeit zu einem Star der Rotlicht-Szene, während sie hinter der Holzwand mit Küchenschürze und Thermoskanne sitzt und unerkannt Männer bedient. Auch ihre Familie hat keine Ahnung, woher sie das Geld für die Behandlung ihres Enkels nimmt. Bis sie ihr arbeitsloser Sohn zu ihrem neuen Arbeitsplatz verfolgt. Marianne Faithfull ist in der Rolle brillant und tiefgründig, ihre schauspielerische Leistung lässt erahnen, welches formidable schauspielerische Talent in ihr brachliegt. Bei der Weltpremiere auf der Berlinale erhielt „Irina Palm“ 20 Minuten lang Standing Ovations.
Es war dieses Comeback auf der Hochschaubahn ihres Lebens, dieser Wille, niemals aufzugeben, aus jeder Talsohle wieder den Weg nach oben zu suchen, und das trotz aller Schicksalsschläge mit einer unglaublichen Leichtigkeit, was unsere Jury damals bewegte, ihr den Preis für das Lebenswerk zu verleihen. „Was für eine starke Frau“, dachte ich mir.
Stilikone der Sixties. Marianne Faithfull war die Muse von Mick Jagger und Keith Richards, ein Blumenkind in einer Zeit, wo der Frieden das große Ziel war und die Welt sehr bunt. Damals war es sehr verlockend, den Farben chemisch ein wenig nachzuhelfen. Die Rolling Stones hatten die Tür gesprengt, raus aus dem Gefängnis der Konventionen und der verknöcherten Moral.
Im Swinging London der Sixties war Marianne Faithfull eine Stilikone. Bewundert von allen, geliebt von vielen. „As Tears Go By“ war ihr erster großer Erfolg, geschrieben von Jagger und Richards, und wurde zur Hymne einer ganzen Generation. Sie war eine Frau, die sich selbst immer treu geblieben ist. Ihr Name war Programm.
Liebe zu Wien. Marianne Faithfull hatte eine besondere Liebe zu Wien. Sie hatte österreichisch-ungarische Wurzeln, ihre Mutter Eva Hermine von Sacher-Masoch war die Großnichte des Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch. Ihm verdanken wir den später eingeführten Begriff „Masochismus“ als Anspielung auf die in seinem Werk vermittelte Erotik, in der er triebhaftes Schmerz- und Unterwerfungsverlangen frivol-ästhetisch formulierte.
Jetzt ist es ausgerechnet Wien, wo sie einen Preis für ihr Lebenswerk verliehen bekommen soll, überreicht von Königin Noor von Jordanien im Rahmen einer international ausgestrahlten TV-Show. Der Zuspielfilm über ihr Lebenswerk war gerade zu Ende, sie sprang elegant aus dem Sitz, vorbei an Monica Bellucci, an Kelly Clarkson, rauf auf die Bühne, Küsschen für Laudator Klaus Eberhartinger, Küsschen für Königin Noor, die ihr die gläserne Trophäe überreichte. Marianne Faithfull war sichtlich gerührt, was man von ihr nicht unbedingt erwartete, sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Danke, Königin Noor. All diese wunderbaren Frauen. Ich liebe den Titel des Awards besonders“, sagte sie, „ich wollte immer eine Frau von Welt und für die Welt sein. Heute bin ich es.“ Tosender Applaus. Abgang direkt von der Bühne ins Mediencenter, wo 350 Journalisten, Reporter, TV-Teams und Kameracrews bereits auf sie warteten.
Beim großen Finale stand Marianne Faithfull lachend auf der Bühne neben Claudia Cardinale, Elle Macpherson, posierte mit Angela Missoni, umarmte Monica Bellucci und Zucchero, schüttelte den Laudatoren Christopher Lee, Joy Bryant und Götz Otto die Hand: “Es war ein großartiger Abend”, sagte sie später. “Und über den Preis freue ich mich wirklich sehr. Endlich gewinn ich mal was!“ Sie lächelte, und dieses Lächeln von Marianne Faithfull hatte eine ganz besondere Herzlichkeit und Wärme.
Eine Große tritt ab. Als ich heute von ihrem viel zu frühen Tod hörte, fand ich auf ihrem internationalen Wikipedia-Eintrag unter „Awards and nominations“ nur vier Einträge: Grammy Awards 1981, Best Female Rock Vocal Performance – Nominated; European Film Awards 2007, Best Actress „Irina Palm“ – Nominated; Q Awards 2009, Q Icon – Won; Women’s World Awards 2009, Lifetime Achievement Award – Won. Was in der Auflistung noch fehlt ist der Ordre des Arts et des Lettres 2011.
Fünf Preise für fast 60 Jahre im Musik- und Filmbusiness, rund 20 Alben als Sängerin, Songwriterin und Interpretin, zahlreiche Filme für Kino und TV und ein erfülltes künstlerisches Leben? Wie unterschätzt war diese großartige Sängerin und Schauspielerin. Ein ganzes Leben lang.