Seine wichtigste Arbeit. Sah das Milton auch so? Ich fragte ihn einmal beim Mittagessen, was er denn selbst als seine wichtigste Arbeit sieht. Die Antwort überraschte mich: seinen jährlichen einwöchigen Kurs an der School of Visual Arts. Für viele Jahre bin ich jedes Jahr für eine Stunde in diesem Kurs als Vortragender zu Gast gewesen. Da saßen vielleicht 40 bis 50 Studenten im Raum, die von überall herkamen: bekannte Grafiker ebenso wie junge Anfänger. Den Kurs hat Milton über viele Jahrzehnte geführt und jedes Jahr verbessert. Nachdem ich dort immer meinen einstündigen Vortrag hielt, traf ich bei Konferenzen auf der ganzen Welt oft Leute, die meinten, sie kennen mich ja schon vom Milton Glaser-Kurs. Ich habe dann routinemäßig gefragt, wie denn der Kurs war, und die Antwort war fast immer dieselbe: „Der Kurs hat mein Leben verändert.“ In einer Woche. Das war die Fähigkeit Milton Glasers. Er wandte viele nahezu kultartige Strategien dabei an. Eine war, dass er Studenten brutal überarbeitet hat, sie haben teilweise eine Woche lang kaum bis gar nicht geschlafen. Die Hauptarbeit in Kleingruppen war, dass sie ein eigenes Magazin erfinden, diesem einen Namen geben, ein Logo designen, eine Titelseite und 16 Seiten Inhalt gestalten, die ganzen Artikel schreiben, Fotos machen, die Illustrationen und das Layout entwickeln und umsetzen. Dann war das Magazin irgendwann fertig – und die Leute auch. Zwischen diesen Phasen der totalen Überlastung hat er sie indoktriniert mit dem, was er wirklich für wichtig hielt. Diese Woche, sagte damals Milton zu mir beim Lunch, sei das beste Design seines Lebens. Mit diesem Kurs hat er tausende Designer nachhaltig bis heute geprägt.
Viele werden sich jetzt fragen, ob nicht das „I love NY“-Logo bedeutender sei? Milton war die ganze Geschichte darum fast ein bisschen unheimlich, um nicht zu sagen peinlich. Für ihn war es eines von vielen Designs, die er im Laufe seiner Karriere entworfen hat. Er konnte selber nicht erklären, warum es so groß geworden ist und über Jahrzehnte hinaus von jedem auf der ganzen Welt kopiert wurde. Ein solcher Erfolg lässt sich nicht planen. Das wollen viele, aber nur wenigen gelingt es. Es ist ein Logo, das weltweit funktioniert und bekannt ist. Jeder Grafikdesigner hätte es gerne im Portfolio. Aber ich glaube nicht, dass es bis heute mehr als ein Dutzend Logos gibt, die global diesen Status erreicht haben, am ehesten noch das Rote-Kreuz-Logo. Ich glaube, zuletzt war Milton doch sehr zufrieden damit, denn diese Ikone des Designs hat zweifelsohne zu seinem Ruhm beigetragen.
Der Pionier. Milton war ein Pionier und der Erste, der den reinen Modernismus in Frage gestellt hat, wie er im Grafikdesign vor allem auch aus der Schweiz und Deutschland gekommen ist. Bis in die 1960er-Jahre hinein durfte ein Logo nur rein nach modernistischen Gesichtspunkten erschaffen werden – bis hin zu denselben fünf Schriften wie Frutiger, die jeder verwendet hat. Dass da ein Designer kommt, der offensichtlich die ganzen modernistischen Regeln verstanden, verdaut und trotzdem gesagt hat: „Fuck this all! Wir bringen alles wieder rein: Farbe und Illustration, Details und Ornament, sehr viel freizügiger, aber von einem sehr hohen Können und einem sehr freien Standpunkt ausgestaltet“ – das war natürlich revolutionär. Für Leute wie mich hat Milton Glaser die Türen weit geöffnet. Der Modernismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist wahnsinnig engstirnig und auch wirklich dumm geworden. 1920 und 1930 kann er durchaus fruchtvoll gewesen sein, wo es darum ging, den Mist des 19. Jahrhundert zu entsorgen. Am Ende des 20. Jahrhunderts angewendet war es aber nichts anderes als Dummheit und faule Konservativität. Da war Milton ein Gigant, der großartig aufgeräumt hat.