Die Probenzeit bedeutet Aufbruchsstimmung, eine sehr inspirierende Phase. Wie geht es Ihnen jetzt nach der Eröffnung der Festspiele?
Die Probenzeit ist immer die interessanteste Zeit. Alles das, was wir uns über die vielen Monate, manchmal auch Jahre ausgedacht haben, was wir uns erträumt haben, wird langsam, aber sicher Realität. Diese Wochen sind von einer freudigen Entspanntheit bestimmt, die dann, je näher man der Premiere kommt, einer echten Anspannung weicht.
Wie intensiv waren Sie bei den verschiedenen Proben dabei?
Wenn ich bestimmte Regisseure nach Salzburg einlade, dann lade ich sie deshalb ein, weil ich ihnen vertraue. Wenn ich sehe, dass etwas aus der Spur oder aus dem Gleichgewicht gerät, und da spielen auch psychologische Momente eine ganz entscheidende Rolle, dann muss ich eingreifen, und dann greife ich auch ein. Aber grundsätzlich ist es nicht so, dass ich mich aufgerufen fühle, mich in Fragen des Künstlerischen oder des Ästhetischen einzumischen, weil ich hier der Intendant bin. Ich habe das schon getan, aber dann eher in einer Art Unterhaltung, einem Gespräch und vielleicht habe ich ja manchmal den einen oder anderen nicht unklugen Beitrag geliefert. Ich bin in den Proben sehr präsent und sehe schon sehr genau, was da passiert, im Guten wie im weniger Guten. In manchen Situationen braucht es von meiner Seite ein ziemliches Einfühlungsvermögen. Einige Regisseure kenne ich sehr gut, mit einigen bin ich befreundet. In „Krisensituationen“ erleichtert das mein Leben auf nicht ganz unbeträchtliche Weise.
Ist Salzburg wie eine große Familie? Protagonisten, mit denen Sie früher gearbeitet haben, kommen immer wieder.
Schön, dass Ihnen das aufgefallen ist! Wenn ich Künstler immer wieder nach Salzburg einlade, ist das bestimmt nicht Ausdruck meiner Fantasielosigkeit. Für die Identität eines Festspieles und auch einer Intendanz ist es nicht von Nachteil, diesen Charakter des Familiären herzustellen. Und selbstverständlich sind das auch Künstler, die mir wichtig sind, deren Arbeit ich wirklich schätze. Die gemeinsame Arbeit auch als Kontinuum in den zehn Jahren meiner Intendanz, mein Vertrag endet ja 2026, wird man, im Rückspiegel betrachtet, hoffentlich als inspirierende und bereichernde Zeit für die Festspiele sehen.
Sie sind selbst ein großer Pianist. Viele Leute haben keine Vorstellung, was es heißt, ein so bedeutendes Festival zu leiten. Wie lange im Voraus planen Sie?
Die Vorläufe sind vor allem in der Oper ziemlich anspruchsvoll, im Konzert weniger. Das heißt, man muss schon mit drei Jahren rechnen, von den ersten Gedanken bis zur Premiere. Ich gestehe aber, und ich empfinde das nicht als Nachteil, dass ich mir relativ viel Zeit nehme, um Entscheidungen zu treffen. Im Umkehrschluss heißt das nicht, dass ich langsam bin, aber ich bin einfach nicht in der Lage, Fünf-Jahres-Pläne zu machen. Die Festspiele sind ja keine Kulturkolchose. Es gibt Intendanten, die können das, ich kann das nicht. Die Spontaneität, die ich brauche, ist im Kulturbetrieb allerdings fast ein Ding der Unmöglichkeit.
Die Planung ist zu lange?
Die Opernplanung ist tatsächlich lang und auch weitläufig, aber sie lohnt jede Minute. Nur in den großen Kunstwerken haben wir die Möglichkeit, die Geografie unserer Existenz zu lesen. Es geht da um nichts weniger als um die Conditio humana, um die existenziellen Fragen: Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir. Und sie behalten ihre Wesentlichkeit über Jahrhunderte, weil wir sie ständig neu lesen und auf unsere Zeit hin auch überprüfen. Der Reflexionsraum, der uns durch die Kunst eröffnet wird, ist unendlich viel größer als die Trostlosigkeit der Tagespolitik.
Sie werden aber immer wieder mit der Tagespolitik konfrontiert.
Keine große Oper, kein großes Kunstwerk ist in so etwas wie einem politikfreien Raum entstanden. Die Dimension des Politischen in der Kunst soll und darf sich nicht an der doch oft trostlosen Situation des Tagespolitischen orientieren.
Salzburg war ursprünglich ein Friedensfestival.
In der Gründungsidee der Festspiele spielt der Gedanke eines Friedensprojektes eine wesentliche Rolle. Eine der zentralen Opern dieses Sommers, „Macbeth“, ist eine ganz profunde, tiefe und wirklich aufregende Reflexion über die Macht. Was ist das Irrewerden an der Macht? Was ist die Gier nach Macht? Was ist die Zerstörung durch die Macht? Shakespeare hat das geschrieben, Verdi hat das vertont. Und das sind Dinge, die heute die gleiche Wesentlichkeit haben, die sie damals gehabt haben. Die wesentlichen Fragen haben sich nicht geändert, nur die Mechanismen, wie man die Fragen löst, sind ganz sicher anders geworden.
Sie haben eine lange Historie, was Salzburg betrifft: 1993 hat es mit „Zeitfluss“ begonnen, 2007 waren Sie Konzertchef, später interimistisch Intendant. Die Festspiele der 1990er-Jahre waren ganz andere. Dann kam Mortier und hat letztendlich vieles radikal verändert.
Die späten 80er-Jahre ebenso wie die frühen 90er-Jahre waren eine historisch einmalige Zeit in der Geschichte der Festspiele. Mit dem Tod Herbert von Karajans 1989 begann eine neue Zeitrechnung. Karajan-Festspiele ohne Karajan zu machen war ein Ding der Unmöglichkeit. Es wurden ganz neue und ganz entscheidende Fragen zur Ausrichtung der Festspiele und zur Sinnhaftigkeit von Festspielen gestellt. Damals hat man mit der Bestellung von Gerard Mortier und Hans Landesmann eine ebenso kluge wie weitreichende Entscheidung getroffen. Die Festspiele wurden zugänglicher, offener, wenn man so will, moderner. Neue Spielstätten wurden gefunden, das Programm deutlich ausgeweitet, Musik unserer Zeit und Theaterformen unserer Zeit fanden eine deutliche Aufwertung. Es wurde klargemacht, dass die Festspiele ein Festspiel der Künste sind. Dafür kann man Mortier und Landesmann nicht genug danken. Die 90er-Jahre waren auch für mich eine Art Sozialisation. Ich war damals für ein, heute würde man sagen, Fringe-
Festival verantwortlich, das es in dieser Form in Salzburg noch nicht gegeben hat und das einen großen Beitrag zu einem, nennen wir es Modernisierungsschub der Festspiele geleistet hat. Die 90er-Jahre scheinen uns heute ein wenig wie die Welt von gestern. Aber das „Puzzle“, das damals zusammengesetzt wurde, hat heute noch Gültigkeit, obgleich sich vieles im Musiksystem grundlegend verändert hat.
Es gab damals eine ganz klare Monopolstellung der Salzburger Festspiele. Heute gibt es eine fast unübersehbare Anzahl an Festivals, die alle ihre Berechtigung und ihre Bedeutung haben. Die schiere Dimension der Festspiele und ihre unvergleichliche Historie bilden vielleicht so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal der Festspiele, konkurrenzlos sind sie nicht.
Wenn Sie als Pianist auf der Bühne stehen, sind das die Momente, wo Sie letztendlich loslassen können? Wären Sie manchmal lieber nur Künstler?
Nein. Die Salzburger Festspiele zu leiten gehört zu den größten Privilegien meines Lebens, aber manchmal brauche ich auch Fluchtmöglichkeiten. Es gibt im Festspielhaus unzählige Probebühnen, in die ich manchmal verschwinde und Klavier übe, Schubert, Schumann oder Lieder von Gustav Mahler.
Auf diese Momente, die erfrischend sind, die vitalisierend sind, die mir Kraft geben, kann und möchte ich nicht verzichten. Das würde mir in keiner Weise guttun.
Aber Sie sind auch Top-Manager, bei dem alles abgeladen wird: Frust, Verzweiflung, Ärger.
Ich bin kein Topmanager. Ich sehe die Festspiele als ein künstlerisches Ereignis.
Und ich habe das Glück, eine fantastische Struktur zu haben, der ich vertraue und die sehr viele Aufgaben übernimmt, die ich zeitlich gar nicht wahrnehmen könnte. Die Räder hier bei den Festspielen greifen sehr gut ineinander.
Haben Sie Rituale, um abzuschalten?
Nein, überhaupt keine. Das Einzige, was manchmal wirklich notwendig ist, sind einige Stunden Schlaf. Die Tage, die Abende, die Nächte während der Festspielzeit, die sind schon sehr lang. Und das zieht sich über Wochen. In dieser Zeit entwickelt man aber so etwas wie eine energetische Selbstverständlichkeit. Die ist dann schon extrem hilfreich.
Werden Sie in Salzburg oft auf der Straße angequatscht?
Ich finde es schön, wenn Menschen mich ansprechen. Das sind ja auch Menschen, die ich einlade, nach Salzburg zu kommen. Ich bin ein relativ ansprechbarer Intendant, ich trete gerne in Kommunikation mit den Menschen. Das ist für mich auch eine Form, dem Publikum gegenüber Respekt zu zeigen. Es kommt allerdings da auch zu Momenten, die nicht unbedingt immer angenehm sind. In der Häufung solcher Momente kann man dann auch etwas dünnhäutiger werden, und damit auch etwas gereizter.
Das ist menschlich.
Letztendlich ist das menschlich und auch ganz natürlich. Über eine so lange Zeitstrecke mit Meinungen konfrontiert zu sein, ist schon eine ziemliche Herausforderung. Irgendwann gibt es einfach ein Zuviel an Meinungen.
Die internationale OOOM 100-Jury hat Sie 2023 unter die 100 inspirierendsten Persönlichkeiten der Welt auf Platz 45 gereiht. Gratulation.
Ich danke Ihnen und der Jury für diese Auszeichnung, die mich wirklich sehr gefreut hat. Vor allem auch, weil ich sie meiner Mutter kurz vor ihrem Tod noch zeigen konnte, und sie sehr, sehr stolz war. Das bedeutet mir wirklich sehr viel.
Auf Platz 9 unserer OOOM 100-Liste ist dieses Jahr Nobelpreisträger Anton Zeilinger, dem wir viele Erkenntnisse zur Quantenphysik verdanken. Haben Sie Prof. Zeilinger als Festredner 2023 ausgesucht? Intuitiv?
Nur der Intuition habe ich diese Entscheidung nicht überlassen. Aber interessant, dass Sie die Intuition ansprechen. Eine der ganz wesentlichen Qualitäten eines Intendanten hat ja auch mit Intuition zu tun. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und von intuitiver Intelligenz sprechen. Die ist ganz wesentlich. Ich bin kein Quantenphysiker, dafür ist Prof. Zeilinger zuständig. Über seine Zusage, die Eröffnungsrede der diesjährigen Festspiele zu halten, habe ich mich außerordentlich gefreut. Prof. Zeilinger ist ein großer Kenner der Musik, er ist ein durch und durch musischer Mensch, ein begnadeter Erzähler und einer der großen Wissenschaftler unserer Zeit. In der Corona-Pandemie, und die ist noch gar nicht so lange her, hat sich eine ebenso problematische wie populistische Wissenschaftsskepsis Raum verschafft. Aber es ist die Wissenschaft, der in einem hohen Maße die Aufgabe zukommt, die Ausrichtung unserer Zukunft vorzunehmen. Und da spielen auch ganz existenzielle, ethische Fragen eine alles entscheidende Rolle. Carl Friedrich von Weizsäcker war der einzige Wissenschaftler von Rang, der bei einer Eröffnung der Salzburger Festspiele das Wort ergriffen hat, das war 1975. Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, wird uns Prof. Zeilinger einen Gedankenraum öffnen, auf den wir alle gespannt sein dürfen, auf den wir uns freuen können.
In London stehen bei „ABBA Voyage“ Avatare auf der Bühne, denen jeden Abend 3.000 Menschen zujubeln. Wie wird künstliche Intelligenz die Kunst beeinflussen? Können Sie sich vorstellen, dass in Zukunft auf der Bühne des Festspielhauses ein Avatar von Asmik Grigorian steht und singt?
Ich möchte es mir gar nicht vorstellen. Ich bin vollkommen überzeugt davon, dass es nichts Kostbareres gibt als diese fantastische Verabredung von Menschen, sich an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort zusammenzufinden und einer Musik zuzuhören. Da kann etwas ganz und gar Vergleichsloses entstehen, das durch nichts, aber auch durch gar nichts zu ersetzen ist.
Virtual Reality wird ermöglichen, von unserem Wohnzimmer aus plötzlich auf einer Bühne mitten im Geschehen zu stehen und alles live zu erleben. Das ist eine ganz andere Welt, als sie ein Max Reinhardt erdacht hat.
Es gibt einen ganz wesentlichen Moment, der mit Kunst zu tun hat, und das ist die Aura. Die Aura ist durch künstliche Intelligenz weder herstellbar noch in Ansätzen erfahrbar. Die Aura, wie sie Walter Benjamin definiert hat, ist die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“. Dieses Spiel zwischen Nähe und Ferne, diese Faszination, die von Kunstwerken ausgeht, denen eine auratische Qualität innewohnt, oder von Künstlern, die eben genau das haben, was man nicht lernen kann, was man sich nicht antrainieren kann, nämlich Aura, ist das Besondere, das vollkommen Einzigartige. Das ist der Magnetismus, dem man sich nicht entziehen kann. Ob oder wie sehr die Entwicklung und Einwirkung künstlicher Intelligenz auf meinen Beruf Einfluss haben wird, kann ich jetzt noch nicht abschätzen. Was ich allerdings gesichert weiß: Mir ist die künstlerische Intelligenz so unendlich viel wesentlicher als die künstliche. Und daran wird sich bestimmt nie etwas ändern.
Die klassische Musik versucht immer jüngeres Publikum anzusprechen.
Ich weiß nicht, ob es jemals eine Zeit gegeben hat, in der in Konzerten mit Streichquartetten von Schubert oder Schönberg oder in einer Monteverdi-Oper …
… Teenager im Publikum gesessen sind?
Wahrscheinlich nicht allzu viele. Wissen Sie, ich bin sehr oft zu Diskussionsrunden über die vermeintliche oder tatsächliche Krise der klassischen Musik eingeladen gewesen. Irgendwann habe ich aber beschlossen, an diesen Zusammenkünften nicht mehr teilzunehmen. Die klassische Musik ist nicht in einer Krise, sie beschreibt eine Krise. Eine Mahler-Symphonie beschreibt eine Krise, das Streichquintett von Schubert beschreibt eine Krise. Wenn jemand in der Krise ist, dann sind das wir, nicht die Musik. Zur Frage nach jungen Leuten im Publikum: Entgegen allen Klischees, mit denen die Festspiele immer wieder zu kämpfen haben, bieten wir über 50 Prozent unserer Karten zu einem Preis an, der unter 100 Euro liegt. Vergleicht man, wie viel die billigste Karte in einem großen Rock-Konzert kostet, mit unseren Preisen, sind wir fast lächerlich billig. Wir tun ja alles, was in unseren Möglichkeiten steht, um jungen Menschen den Zugang zu den Festspielen leicht zu machen. Das ist auch richtig und notwendig. Was wir in diesem Zusammenhang mit einer sehr intensiven Kinder- und Jugendarbeit tun, muss man auch als einen
Versuch sehen, eklatante bildungspolitische Mängel zu neutralisieren. Die fangen in den Volksschulen an und ziehen sich weiter über die Mittelschulen. Wir haben da eine große Verantwortung, die wir auch wahrnehmen; die noch größere Verantwortung hat allerdings die Politik, und da sehe ich wenig Licht am Horizont.
Wie sieht das klassische Salzburg-Publikum aus?
Ich weiß das beim besten Willen nicht. Ich lade Menschen ein, die Salzburger Festspiele zu besuchen, und das tun sie, mit großer Empathie und mit großem Interesse. Und sie geben dafür das Kostbarste, das ihnen zur Verfügung steht, her: ihre Zeit. Grundsätzlich ist mir jeder Besucher der Salzburger Festspiele willkommen, ich bin nicht der Türsteher, ich bin der Intendant.
In wie viele Ihrer Premieren gehen Sie?
In alle.
Welche Ihrer Produktionen hat Sie besonders beeindruckt?
Es wäre unfair, würde ich jetzt irgendeine Art von Wertung vornehmen. Aber die „Salome“ in der Inszenierung von Romeo Castellucci mit Asmik Grigorian, das war schon ein ganz großes Ereignis.
Auch für Asmik Grigorian. Die ganze Opernwelt sprach über sie.
Asmik Grigorian ist eine einzige Überwältigung. Über die Großartigkeit ihrer Stimme muss man kein Wort mehr verlieren, ebenso wenig wie über ihr immenses darstellerisches Talent und ihren szenischen Instinkt. Asmiks Fähigkeit und ihr unbedingter Wille, Grenzen nicht nur auszuloten, sondern mit einer intuitiven Intelligenz auch zu überschreiten, darin ist sie ziemlich vergleichslos.
Die Salzburger Festspiele sind bestimmt nicht so etwas wie ein AMS für Superkarrieren, aber die „Trägerrakete“ Festspiele kann für eine Karriere wichtig sein, bisweilen auch entscheidend sein. Strategisch lässt sich da wenig bis gar nichts planen. Manchmal geht es gut, manchmal weniger. Bei Asmik Grigorian ist es sehr gut gegangen. Ihre Karriere bewegt sich in stratosphärischen Höhen.