Luchino Visconti hätte die Szene nicht besser inszenieren können. Der Regietitan, der 1971 wenige Kilometer weiter in Alberoni die Schlüsselszenen seines Klassikers „Tod in Venedig“ drehte, liebte die pittoreske, fast morbide Stimmung des Lido und seiner Menschen, deren Leben rauer verlief als das der meisten in Venedig. Viele sind Fischer, Handwerker, Glasbläser im nahen Murano, Bootsbauer, und sie bekommen hier in Malamocco nur wenig mit von den Horden an Touristen, die das „alte“ Venedig bevölkern.
Eine Bar und sonst nichts. Malamocco ist ein kleiner Ort im südlichen Teil der Insel, deren knapp 1.100 Einwohner ein beschauliches Leben führen. Von der mondänen Welt des Gran Viale im Zentrum der Insel ist man hier eine gefühlte Ewigkeit entfernt.
Um eine Kirche mit romanischem Turm gliedern sich alte, malerische Häuser. Auf der Piazza tollen Kinder vergnügt umher. Die Einheimischen treffen einander in der einzigen kleinen Bar des Dorfes, um zufällig vorbeikommende Bekannte einzuladen, gemeinsam eine „ombra“ zu trinken. Die kleinen Häuser sind in den typischen Farben der venezianischen Lagune gehalten, weich und warm in der schönen Jahreszeit und geheimnisvoll durch den Nebel im Winter. Wenn man in den wenigen kleinen Gassen spaziert, fällt einem zuallererst die Stille auf. Eine Stille, die einen die Sorgen des Alltags vergessen lässt und ein Gefühl des Friedens erzeugt.
Ein Dorf im Fieber. An einigen wenigen Tagen im Jahr wird diese scheinbare Stille unterbrochen und alles wird anders: Die Häuser werden mit Tausenden Fähnchen geschmückt, man arbeitet fieberhaft, um Gerüste und Stände aufzubauen. Man spürt Energie in der Luft, eine Energie, die noch intensiver in einem kleinen Dorf wahrgenommen wird, wo jeder und jede, ob klein oder groß, einander kennt und nun gemeinsam anpackt. Denn bald wird es ein Fest geben und man muss möglichst gut darauf vorbereitet sein.
Es ist das Fest der Madonna di Marina und jeder Einwohner von Malamocco, der etwas auf sich hält, will daran teilnehmen. So sieht man die Ruderer der Regattaboote auf den ruhigen Gewässern der Lagune trainieren, während vom Ufer aus Trainer, Freunde und Verwandte mit lauten Rufen versuchen sie anzufeuern. Von den Holzbuden her beginnt sich der Duft typischer Speisen zu verbreiten, der frischen Miesmuscheln, die in den riesigen Pfannen den Duft der Meeres-Essenz verströmen und des Sugo alla Malamocchina, bestehend aus Tomaten und Vongole für die Pasta.
Madonna kommt. Dann ist der Augenblick gekommen, die Statue mit den alten wertvollen und mit Gold verzierten Stoffen zu bekleiden, um sie für den nächsten Tag im Gedenken an die Überführung der Madonna in die Kirche von Malamocco für eine Bootsprozession vorzubereiten. Es ist ein berührendes Spektakel, wenn Dutzende von bunten Booten sie ans Ufer begleiten, wo sich eine wartende Menge versammelt hat. Es ist ein spektakulärer und gleichzeitig feierlicher Moment, wenn die Madonna, umgeben von Menschen in historischen Kostümen, auf den mit unzähligen kleinen Lichtern geschmückten Booten, im kleinen Hafen ankommt. Eines der Boote trägt ein großes gemaltes Bild, das das Wunder der Auffindung des Holzes zeigt, mit sich.
Die Prozession. Seit den Morgenstunden werden im ganzen Dorf Vorbereitungen für die Prozession getroffen, Tische und Bänke für das Abendessen im Freien aufgestellt, die Bühne aufgebaut, all dies unter den aufmerksamen und belustigten Blicken vieler Neugieriger.
Nachmittags beginnt dann die Regatta mit den schweren Caorline, den alten Booten, die einst Obst und Gemüse von den Laguneninseln nach Venedig transportierten und den Mascaréte, den leichten schnellen Booten mit flachem Boden, die seit der Antike zu Ausfahrten genutzt wurden. Sie sind umgeben von Ruderbooten, Motorbooten und Wassertaxis, die für diesen Anlass aus allen Himmelsrichtungen gekommen sind. Während aus den Lautsprechern die Stimme des Kommentators zu hören ist, wächst am Ufer die Begeisterung der Fans.
Dem Betrachter bietet sich ein beeindruckendes Schauspiel, wenn sich die Silhouetten all dieser Boote im Gegenlicht der Sonne dunkel auf dem Wasser abzeichnen. Auf diesen traditionellen Booten zu rudern ist eine alte Kunst, die nicht jeder beherrscht.
Wenn die Ziellinie endlich unter dem Jubel der Zuseher erreicht wird, werden von der siegenden Mannschaft die Ruder senkrecht in die Höhe gestreckt. Auf der schwimmenden Tribüne findet schließlich die Siegerehrung statt. Nach Beendigung der weltlichen beginnt die religiöse Zeremonie, die mit einem bebenden Läuten aus dem alten Glockenturm eingeleitet wird. Nach und nach füllt sich die Kirche bis auf den letzten Platz. Die Priester beginnen mit dem Gottesdienst unter Glockenläuten und Weihrauchduft. Links vom Hauptaltar steht die leuchtende goldgeschmückte Madonna di Marina auf jener Sänfte, mit der sie durch die Gassen des Ortes getragen wird. Vor der überfüllten Kirche wartet eine Menschenmenge, während die Musiker der Musikkapelle in ihren Uniformen mit schneeweißen Hemden leise die Musik proben, die sie bald spielen werden. Es ist eine Musikkapelle die vom Festland, der „Terraferma“ kommt, denn Malamocco ist zu klein, um eine eigene zu haben. Fast alle Teilnehmer sind sehr jung und voll Enthusiasmus, auf ihren Gesichtern spiegelt sich die Freude, einen wichtigen Beitrag zu dieser Prozession zu leisten. Gegen Ende der Messe betreten einige Männer mit hellblauer Tunika und einer Art weißer Kutte die Kirche: Es sind diejenigen, die die Kerzen, die traditionellen Insignien und vor allem die Statue der Madonna tragen werden. Die Kostüme sind sorgfältig gewählt, doch, wie es häufig bei diesen Gelegenheiten geschieht, die mehr vom Herzen als von einer durchdachten Regie diktiert werden, sind viele Details dem Zufall überlassen. So sieht man einen der Träger in Sportschuhen, einen anderen in Sandalen, doch all das spielt keine Rolle, im Gegenteil. Es sind gerade diese kleinen Unvollkommenheiten, die uns ein Gefühl von Echtheit und von alter Tradition vermitteln und nicht von einem inszenierten Touristenspektakel.
Während die ersten Noten der Musikkapelle erklingen, ein wenig verstimmt, aber ohne Zweifel voll Natürlichkeit und gerade deswegen sehr bewegend, wird die Kirche von den Ersten verlassen: Männer mit schweren, hohen Kerzen, gefolgt von den Marien-Insignien, die von der Menge am Kirchplatz mit Jubel empfangen werden. Es folgen ein als Doge im roten mittelalterlichen Kostüm verkleideter Mann mit seiner Dogaressa und ein ebenfalls mittelalterlich bekleidetes Mädchen, das ihnen vorangeht. Auch sie sind Einwohner des Dorfes mit improvisierten Kostümen, die manchen Historiker wohl zum Schmunzeln bringen würden, aber gerade deswegen wirken sie so authentisch und so eingenommen von ihrer Rolle.
Es wird still. Als endlich, von vier Trägern gestützt, die Madonna di Marina in ihrem himmelÂblauen Mantel erscheint, wird es still. Allmählich beginnen sich alle durch die schmalen Gassen zu bewegen. Wie der Umzug voranschreitet, wird die Menge, die folgt, immer größer. Wahrscheinlich nehmen fast alle Einwohner des Dorfes daran teil, so lange ist die Schlange, die sich gebildet hat. Es sind Menschen jeden Alters, fröhliche Kinder, Mütter mit Kinderwagen und es genügt ein Blick in ihre Gesichter, um zu sehen, dass ihre Anteilnahme ehrlich ist. Dieser zeitlose, ruhige und abgeschiedene Ort ist plötzlich dank dieser mystischen Tradition voll Leben erfüllt.
Das Fest beginnt. Zur Prozession intoniert die Musikkapelle liturgische Lieder, die von den Gläubigen zuerst zaghaft, dann immer überzeugter mitgesungen werden. Nachdem der Rundgang durch das Dorf beendet wird und die Prozession am Platz vor der Kirche hält, wendet sich der Priester an die Anwesenden, um an die Tradition zu erinnern und sich bei allen Beteiligten zu bedanken. Die Menschen werden häufig mit ihren Namen genannt, wie unter Freunden üblich, und der Applaus, das Lachen und die Kommentare der Menge unterstreichen das Geschehen.
Danach kehrt man in die Kirche zurück und die Statue der Madonna di Marina kommt an ihren Platz. Die religiöse Zeremonie ist beendet. Das profane Fest mit seinen bunten Lichtern, dem Tanz, den Buden mit Süßigkeiten, den frischen Muscheln und der unerlässlichen Pasta alla Malamocchina kann beginnen.
Aber was ist wahr an der Legende? Handelt es sich um eine historische Begebenheit oder um eine dieser erfundenen Geschichten, für die Venedig bekannt war? Einigen Quellen nach soll die Geschichte der Auffindung des wundersamen Holzes bereits auf das Jahr Eintausend zurückreichen, anderen zufolge soll sich die Begebenheit im vierzehnten Jahrhundert zugetragen haben. Die Realität ist, wie so häufig, viel prosaischer: Es geschah um die Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, als die Galionsfigur eines vermutlich gekenterten Schiffes mit der Meeresströmung ans Ufer gespült wurde. Diese Meinung wird durch mehrere Indizien unterstützt: In jener Zeit gab es einen starken Handel zwischen Malamocco und der Stadt Piran in Istrien, von wo das dort gewonnene Meersalz nach Venedig gebracht wurde. Gerade in Piran gab es eine Schiffswerft die Schiffe mit Galionsfiguren in Form von Marienstatuen anfertigte. Holzgeschnitzte Statuen, die der Muttergottes geweiht waren und die Schiffe mit den passenden Namen – Rosa Mistica, Madonna del Mare, Madonna di Marina usw. – schmückten. Im kleinen Marine-Museum von Piran gibt es eine Statue, die haargenau der Madonna di Marina von Malamocco gleicht. Galionsfigur oder Statue? Für die Einwohner von Malamocco ist die Marienfigur etwas Heiliges, und wenn das Meer diese bis hierher angeschwemmt hatte, musste dies doch eine Bedeutung haben, sodass nach der Errichtung der Gedenkstätte die Legende ihren Anfang nahm. Ganz anders, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, war Malamocco einst ein sehr wichtiger Ort. Das antike Metamauco römischen Ursprungs war der Ort, wohin sich die Bewohner des Festlandes vor den Invasoren wie den Hunnen, Goten und letztlich den Langobarden flüchteten. Metamauco galt auch als Sitz der ersten Dogen, bis einige Jahrhunderte später der neue Sitz in eine sicherere Gegend um Rialto verlegt wurde. Die Einwohner, die geblieben sind, bildeten eine stolze und feste Gemeinschaft, die, obwohl sie zum Gebiet Venedigs gehörte, immer eine gewisse Unabhängigkeit behielt.
Aber was hat das alles mit der Legende der Madonna di Marina zu tun? Es geschah gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts, nach der schrecklichen Pestepidemie, die Venedig heimsuchte: Zu jener Zeit hatte Venedig kein gutes Verhältnis zur römischen Kirche und im Besonderen zu Papst Clemens VIII., der den Bau neuer Kirchen nicht so einfach bewilligte.
Die Pest. So haben die klugen Einwohner Malamoccos die Legende der Madonna di Marina ins Leben gerufen, zu der sie während der Pest beteten. Die Genehmigung, eine Kirche zu bauen, wurde demnach Malamocco und nicht der venezianischen Diözese gewährt, mit der Begründung, diese Marienstatue gehöre dem Volk.
Auch wenn die wahre Geschichte sich von der Legende unterscheidet, so lebt Letztere in diesen Tagen des Festes der Madonna di Marina auf und findet in einem Crescendo an Lichtern, Klängen und Fröhlichkeit mit einem Feuerwerk, das sich in den Gewässern der Lagune spiegelt, ihr Ende.
Die Magie bleibt zwischen den alten und schweigsamen Mauern des kleinen Dorfes, das sein gewohntes Leben wieder aufnimmt, ruhig und zeitlos wie davor und danach.