Rialto. Die Gegend um Rialto, den Überlieferungen nach der älteste Teil Venedigs, wo die erste Kirche, San Giacometto, im Jahre 421 erbaut wurde, ist noch immer ein lebendiges Viertel mit unzähligen kleinen Cafés und sehr antiken Bàcari (kleine, typische Lokale, wo man einen Imbiss zu einem guten Glas Wein zu sich nehmen kann). Zu erwähnen wäre der Bàcaro „Ai do Mori”, wo Kupfergeschirr von der Decke und an den Wänden hängt und die „Cantina do Spade”, eines meiner Lieblingslokale, nicht nur wegen seiner ausgezeichneten Küche – herrlich sind die gebackenen Zucchiniblüten gefüllt mit baccalà (Stockfisch) – sondern auch, weil es das einzige Lokal ist, das Casanova in seinen Memoiren erwähnt.
Unglaubliche Stille. San Polo ist jedoch nicht nur ein quirliges Marktviertel, sondern man findet, nur einige Schritte vom Touristenstrom entfernt, bezaubernde Plätze und eine unglaubliche Stille. Ein besonderer Ort ist der Sotopòrtego del Banco Salviati, ein langer an einem Kanal gelegener Laubengang, wo die herbstliche Nachmittagssonne das Gewölbe in einem atemberaubenden Licht erstrahlen lässt.
Tizians Meisterwerke. Ein anderer Ort, den man gesehen haben muss, ist die gotische Basilica dei Frari, die Meisterwerke Tizians enthält, die jedem Museum Ehre machen würden. Unweit davon sei noch die Scuola Grande di San Rocco erwähnt, die den größten Bilderzyklus Tintorettos beinhaltet.
Anderes Viertel, andere Impressionen: Von San Polo nach Dorsoduro sind es nur wenige Schritte, und doch ändert sich das Stadtbild merklich. Die Häuser werden niedriger und vornehmer, häufig sind sie von imposanten Palästen flankiert und in der Nähe der Basilica della Madonna della Salute, findet man unzählige Gemäldegalerien. Die Kunst. Venedig ist voll davon, aber man kann sagen, dass es im Viertel von Dorsoduro eine größere Konzentration davon gibt, beginnend mit den beiden Kunsttempeln der Malerei, der Gallerie dell’Accademia und dem Guggenheim-Museum.
Pinaults Sammlung. Liebhabern der zeitgenössischen Kunst sei die Collezione Pinault empfohlen, die im ehemaligem Zollhaus Punta della Dogana – neu gestaltet vom japanischen Stararchitekten Tadao Ando – untergebracht ist.
An sonnigen Tagen ist es herrlich, die Fondamenta delle Zattere, das lange Ufer am Canale della Giudecca, die „Sonnenpromenade” der Venezianer, entlangzugehen, mit zahlreichen Cafés und Bars, von denen aus man das wunderbare Panorama und das bunte Treiben der Menschen und Boote genießen kann. Ganz in der Nähe befindet sich die alte und malerische Schiffswerft San Trovaso, wo noch heute nach alter Tradition Gondeln hergestellt werden. Man kann diese zwar nicht besichtigen, aber vom gegenüberliegenden Ufer des Rio de le Maravège bewundern. Apropos Gondel, eine Fahrt ist zwar nicht billig, gehört aber zweifellos zu einem unvergesslichen Erlebnis, besonders spät abends, wenn man damit durch dunkle, geheimnisvolle Kanäle gleitet. Wer nur eine Kostprobe davon haben will, wie man sich auf diesem uralten Fortbewegungsmittel der Venezianer fühlt, kann mit ein paar Euro auf einer „Gondola da parada” den Canal Grande überqueren.
Romanisches Juwel. Das Viertel Santa Croce ist in vielem Dorsoduro ähnlich, wenn es hier auch weniger wichtige Bauwerke gibt, abgesehen von der Kirche San Giacomo dall’Orio, einem kleinen romanischen Juwel. Man findet auch hier zahlreiche Museen. Drei möchte ich besonders hervorheben: Ca’ Pesaro, ein Museum moderner Kunst mit einer beachtlich guten Sammlung, unter denen sich die berühmte Judith von Klimt befindet und dem im selben Gebäude untergebrachten wunderbaren Museo d’Arte Orientale, das die zweitgrößte orientalische Sammlung nach dem Victoria and Albert Museum Londons beinhaltet. Um die japanischen Ausstellungsstücke der Edo-Periode zu sehen, reisen manche Japaner eigens deswegen an, da es diese raren Stücke in ihrer Heimat nicht mehr gibt.
Parfumsammlung. Ein weiteres Museum, das ich wärmstens empfehle, ist der Palazzo Mocenigo, wo man einen Eindruck davon bekommt, wie kostbar ein venezianischer Palast im 17. Jahrhundert ausgestattet war und wie deren Bewohner sich kleideten. Außerdem gibt es eine kuriose und faszinierende Sammlung von Parfums, die wie die berühmte Seife „Sapone di Marsiglia” in Venedig kreiert und danach nach Paris exportiert wurden. Genau gegenüber gibt es ein Lieblingslokal von mir, die Osteria Mocenigo, wo man in einem angenehmen Ambiente eine noch typisch venezianische Küche zu einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis genießen kann.
Ein anderer Charakter. Zuletzt bleibt mir noch, die zwei großen volkstümlichen Viertel, die den gesamten Norden der Stadt einnehmen, zu beschreiben: Cannaregio und Castello. Auch hier ändert sich so ziemlich der Charakter der Stadt. Ein paar Schritte abseits der von Touristen überfüllten Gassen und Plätze findet man sich an einem Ort, wo die Zeit still gestanden zu sein scheint: Man sieht an Leinen, die von einer Hauswand zur anderen gespannt sind, Wäsche im Wind flattern, man findet kleine alte Geschäfte wie sonst nirgends mehr in der Stadt, es gibt kleine Bàcari, die fast nur von Einheimischen besucht werden und winzige Bootswerften, die Boote bauen und reparieren. Die Tatsache, dass es sich um volkstümliche Viertel handelt, bedeutet keineswegs die Abwesenheit von Kunst, Kuriositäten und Geschichte, im Gegenteil.
Jüdisches Ghetto. Vor allem das jüdische Ghetto, das Erste, das diesen Namen trägt, wurde 1516 gegründet, vor genau fünfhundert Jahren. Sehenswert sind das Museum, die Synagoge und die, aufgrund des Platzmangels, bis zu 10 Stockwerke hohen Häuser.
In Cannaregio gibt es eine gotische Kirche, Madonna dell’Orto, die man ebenso als Gemäldegalerie bezeichnen könnte. Sie beherbergt mehr als fünfzig Bilder großer Meister, unter denen sich ein wunderbarer Cima da Conegliano, um nur einen zu nennen, befindet. In diesem Viertel gibt es malerische und interessante Ecken wie den Campo dei Mori, wo vier antike, Männer mit Turban darstellende, Statuen in Hausmauern eingefügt sind. Der Legende nach sind es Händler, die von einer Hexe in Stein verwandelt wurden, nachdem sie versucht hatten, diese zu betrügen.
Kamelpalast. Nicht weit davon entfernt findet man ein antikes Relief an der Fassade des Palazzo Mastelli, das ein mit Ware beladenes Kamel zeigt und deshalb auch Palazzo „del camello“ genannt wird.
Geisterhaus. Im Norden Venedigs, der von der Lagune begrenzt wird und wo häufig kalte Winde wehen, gibt es einen geheimnisvollen Platz, der so manchem kalte Schauer über den Rücken laufen lässt: der Palazzo Contarini dal Zaffo, ebenfalls bekannt unter dem Namen Casin dei Spiriti (Geisterhaus). Man erzählt, dass ein Maler hier im 16. Jahrhundert Selbstmord beging und nachts wandernde Lichter an den Wänden zu sehen und sonderbare Stimmen zu hören seien. Suggestion? Windböen? Möglich. Tatsache ist, wenn man nach Einbruch der Dunkelheit um diesen verlassenen Palazzo herumgeht, kann man sich einer gewissen seltsamen Empfindung nicht erwehren.
Unbesiegbare Schiffe. Castello, vor Zeit ein „volkstümliches“ Viertel, wurde hauptsächlich von den sogenannten „Arsenalotti“, den Arbeitern und Schiffsbauern des Arsenale, bewohnt, wo die venezianische Republik ihre unbesiegbaren Schiffe bauen ließ. Auch hier ist es am besten, sich einfach treiben zu lassen und Schritt für Schritt neue Impressionen zu sammeln: eine einsame Gondel, die einen ruhigen Kanal entlanggleitet, oder ein Stück Mauer des Arsenale mit seinem von Zinnen gekrönten Abschluss. Kunstwerke und Kuriositäten gibt es auch hier im Überfluss: vom herrlichen Campo Santi Giovanni e Paolo, der sich heute noch unverändert wie auf alten Gemälden präsentiert, bis zum Campo Santa Maria Formosa mit seiner schönen Kirche und dem grotesken Mascherone über dem Tor des Campanile. Ähnliche Mascheroni findet man auf mehreren Campanili, die von den Venezianern dort angebracht wurden, um den Teufel davon abzuschrecken, den Turm hinaufzuklettern und die Glocken zu läuten. Ein weiterer faszinierender Ort unweit von Santa Maria Formosa ist die „Libreria acqua alta“, eine Buchhandlung, in der man in einem „geordneten Chaos“ Unmengen von Büchern, die teilweise in einer alten Gondel untergebracht sind, findet.
Wie man sieht, ist Venedig eine vielschichtige Stadt, weit mehr als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es gibt aber einen Augenblick, in dem sich die ganze Stadt in einen einzigen unvergleichlichen Zauber hüllt: Wenn nach Sonnenuntergang eine allgegenwärtige Stimmung herrscht und die irrationale Stille der weniger frequentierten Plätze offenkundig wird. Jedes Ding erhält einen ungewohnten, märchenhaften Anschein. So empfehle ich, langsam zu gehen zu beginnen, um die einzigartige Essenz dieser geheimnisvollen Stadt in sich aufzunehmen, die einem immer mehr ihr inneres Wesen offenbaren wird, bis sie einen nicht mehr loslässt.