Die ersten Vögel begrüßen die Morgendämmerung mit ihrem Gesang, während die Zikaden der Nacht langsam verstummen. Als ich meine Augen öffne, blicke ich durch das Moskitonetz über meinem Bett in den Dschungel. In der Dunkelheit scheinen die Sträucher, Bäume und Palmen vor meiner kleinen, halboffenen Casita in ein schwarzes Ganzes verwachsen zu sein. Das erste Licht des Tages verleiht der tropischen Natur langsam Konturen. Ich brauche einige Augenblicke, bis ich vollständig realisiere, wo ich bin.
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Pacha Mama ist eines der größten und ältesten Eco-Villages in Costa Rica. Die Namensgeberin des Dschungeldorfes ist niemand Geringerer als die Schöpfung selbst. Das Wort Pacha Mama entstammt der indigenen Sprache der Quechua, bedeutet so viel wie Mutter Erde und wird in vielen naturverbundenen Kulturen Lateinamerikas verwendet. Im Jahr 1999 gründete Tyohar – der spirituelle Lehrer von Pacha Mama – gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Reisenden das Öko-Dorf, das damals nichts als ein 200 Hektar großer Dschungel in der Nähe von Nosara im Nordwesten des Landes war. Geleitet von der Vision und der Einladung des Lebens selbst, eine Gemeinschaft aufzubauen, die einen neuen „way of life“ würdigt. Ein ökologisch bewusstes Leben in Harmonie mit der Natur und in Verbindung mit spirituellem Wachstum, Heilung, Selbsterkenntnis und der Erweiterung des menschlichen Bewusstseins. Mittlerweile leben in Pacha Mama rund 250 Menschen aus der ganzen Welt, viele davon haben ihren permanenten Wohnsitz dort, andere besuchen die Gemeinschaft für mehrere Monate, tauschen ihre Zeit und Arbeitskraft gegen Unterkunft und Essen oder kommen – so wie ich – für kurze Zeit, um an einem Retreat teilzunehmen.
Raum der Stille. Es ist 5.45 Uhr, mittlerweile durchleuchten erste Sonnenstrahlen das Dickicht. Ich schiebe das Moskitonetz beiseite, putze mir an einem Wasserhahn neben meinem Unterschlupf die Zähne und mache mich auf zur ersten Yogaklasse meines siebentägigen Silent Retreats. Seit gestern Abend herrscht Schweigen im Dorf und selbst diejenigen, die nicht am Retreat teilnehmen, nehmen Rücksicht und halten den Raum der Stille. Ich steige den schmalen Dschungelpfad hinunter in die nur wenige Meter von meiner Casita entfernte Osho Hall, die majestätische Meditationshalle von Pacha Mama. Benannt nach dem indischen Mystiker Bhagwan Shree Rajneesh, besser bekannt als Osho. Alle 60 Teilnehmer treffen pünktlich ein, niemand grüßt oder blickt auf, jedwede Kommunikation – auch in Form von Augenkontakt – soll unterlassen werden.

Neue Heimat Costa Rica. Seit November 2021 lebe ich mit meiner Freundin wieder in Costa Rica. Schon Anfang vergangenen Jahres waren wir fünf Monate im Land, im Spätherbst kehrten wir zurück. Seit damals arbeiten wir online und leben als digitale Nomaden ohne festen Wohnsitz, genießen die Freiheit und erleben die Freuden und Herausforderungen, die ein solches Leben mit sich bringt. Schon länger spüre ich den Ruf der Stille und das Bedürfnis anzukommen – vor allem bei mir selbst. Was mich seit langem beschäftigt: meine Erwartungen an mich selbst, an andere und das Leben. Mein Versuch, der Unplanbarkeit des Lebens mit der Illusion meines Verstandes zu begegnen, ich müsste nur dieses oder jenes schaffen, erreichen oder werden, um das Leben zu führen, das ich wirklich führen möchte – oder besser gesagt: das ich glaube, führen zu wollen.
Stille. Sieben Tage lang in die Stille zu gehen ist ein kraftvoller Weg, um diese Illusion zu erkennen. Ohne Ablenkungen, ohne Austausch mit anderen, ohne Bücher, Handy oder Notizbuch. Das kompromisslose Hier-Sein mit allem, was der gegenwärtige Moment gerade ist, kann zu einer Mammutaufgabe werden. Und es hilft dabei, in Kontakt zu gehen mit einer höheren Wahrheit, die aller Schöpfung – und damit auch mir selbst – innewohnt.
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Wahrheit als Erfahrung. Morgens und abends versammeln sich die Retreat-Teilnehmer in der Osho Hall zum Satsang, einer Zusammenkunft mit der Intention, dieser Wahrheit auf die Spur zu gehen. Rund eine Stunde lang teilt Tyohar tiefgründige Einsichten ins Leben und kommt dabei völlig ohne Dogma aus. Er propagiert keine Religion oder Ideologie. Worum es hier geht, ist die Existenz selbst. Möchte man seine Weisheitslehren dennoch einordnen, so findet man im Zen die besten Anhaltspunkte. Intellektuelles Wissen, ganz gleich welchen Traditionen oder Doktrinen zugehörig, darf in den Hintergrund rücken. Stattdessen widmet man sich im Zen der direkten Einsicht in die Natur des Geistes und der Erkundung der Ursprünglichkeit aller Dinge. Dies geschieht durch Meditation, spirituelle Praxis im täglichen Leben und – sofern zugänglich – durch die Interaktion mit einem Meister. Die bodenständige, undogmatische Spiritualität, die hier praktiziert wird, empfinde ich als sehr erfrischend und kraftvoll. Weil sie einem ermöglicht, abseits von Konzepten und bloßen Beschreibungen vorzudringen in die Erfahrung. Stille ist der Raum, in dem diese Erfahrung wahrgenommen werden kann.
Die Identifikation mit dem Verstand lösen. Während des Silent Retreats praktizieren wir mehrmals täglich unterschiedliche Meditationen. Vipassana, zum Beispiel, „sehen, was wirklich ist“ – durch das regungslose Sitzen in völligem Gewahrsein von Atmung, Gedanken, Emotionen, Empfindungen und den Klängen der Umgebung. Auch aktive Meditationen praktizieren wir, in denen wir tanzen und den Körper durchschütteln. Oder Breathwork, die intensive Arbeit mit der Atmung. Egal, wie die Technik heißt, es geht immer darum, leer zu werden, die Identifikation mit dem Verstand zu lösen und uns in der Rolle des stillen Beobachters dieser Gedanken zu erleben. In dem Maße, in dem uns das gelingt, können wir wahrnehmen, dass alle Gedanken in Wirklichkeit eine Illusion sind, auf der sämtliche Beschreibungen und Bewertungen der Wirklichkeit basieren – und damit alles Leid, das wir Menschen erleben, das wir einander und der Natur seit Jahrtausenden zufügen.
Verlust. Im Jahr 2020 haben meine Freundin und ich entschieden, unseren festen Wohnsitz in Wien aufzugeben, den Großteil unserer Sachen zu verkaufen und in einen ausgebauten Van zu ziehen. Unser Zuhause auf Rädern haben wir acht Monate lang umgebaut, um Anfang November loszufahren und unsere Vision eines simplen, ortsunabhängigen und naturnahen Lebens zu verwirklichen. Zweieinhalb Wochen später parkten wir den Bus vor einem Einkaufszentrum, um Lebensmittel einzukaufen. Als wir dreißig Minuten später zurückkehrten, fuhr unser gerade erst fertig gestelltes Zuhause fünfzig Meter vor uns aus der Parklücke – und mit ihm alles, was uns an materiellen Dingen wichtig war. Alles Nachlaufen, alles Festhalten, alles Versuchen half nichts. Es war das letzte Mal, dass wir den Van sahen. Was uns in Rom gestohlen wurde, war
mehr als nur ein Auto. Es war eine Vision, ein Traum, ein Plan. Was folgte, war ein harter Aufschlag am Boden der Realität, meine bisher schmerzvollste Erfahrung und ein schwerer Vertrauensbruch zwischen dem Leben und mir.
Ich verurteilte mich selbst, immer wieder. Denn es waren meine Erwartungen, die kuriosen Pläne meines Egos, die uns an diesem 16. November überhaupt erst in einen Stadtteil von Rom geführt haben, der berüchtigt ist für die Aktivitäten krimineller Banden – was wir nicht wussten. Aber ich bildete mir ein, ausgerechnet an diesem Nachmittag die Solarbatterien in einer Werkstatt aufzuladen, weil ich Angst hatte, sie könnten sonst kaputtgehen. Wenige Stunden, bevor wir mit der Fähre nach Barcelona übersetzen wollten.
Jahre später. Der dritte Morgen des Silent Retreats bricht an. Ich lag gefühlt die halbe Nacht wach, fühle mich müde, erschöpft, meine Gedanken drehen sich permanent im Kreis. Ich dachte, das Van-Kapitel wäre abgeschlossen. Vorbei, verarbeitet, angenommen und integriert. Costa Rica hat uns als Plan B reich beschenkt mit wunderbaren Erfahrungen, Menschen und Augenblicken, die wir nie erlebt hätten, wenn wir in Rom woanders geparkt hätten. Aber die Stille legt noch einmal den Finger auf die Wunde, spült nochmal hoch, was gesehen werden will. Wenn Ablenkung keine Option ist, wird Gegenwärtigkeit zur Transformationskraft. Das kompromisslose Hier-Sein mit allem, was gerade ist, das Zulassen und beobachten, unterstützt mich dabei, meine Identifikation mit Gedanken, Emotionen und Erfahrenem zu lösen.
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Die Tanz-Meditation am Nachmittag wirkt wie ein energetischer Wirbelwind. Durch die Bewegung meines Körpers scheinen sich innere Räume zu öffnen, in denen sich neue Gedanken formen können. Und dann ganz plötzlich, Gänsehaut. Tränen überkommen mich. Weder der Freude noch des Schmerzes, sondern Tränen der Erkenntnis, der tief empfundenen Dankbarkeit, Tränen des Vertrauens in dieses Mysterium, das ich tagtäglich erfahren darf – einen Augenblick nach dem anderen. So klar erscheint mir die Botschaft nun. Seit Jahren versucht mir das Leben diese Erfahrung zu ermöglichen und fährt dabei mitunter schwere Geschütze auf. Versucht mir zu zeigen, wie sehr ich mir mit meinen Erwartungen und Plänen selbst im Weg stehe und dass der Weg zu Glück und Fülle nicht über das Werden führt, sondern über das Sein.
Du weißt nicht, was du willst. Als wüsste er, welche Erfahrung ich heute gemacht habe, trifft Tyohar mit diesen Worten im abendlichen Satsang bei mir ins Schwarze: „Du glaubst nur, zu wissen, was du willst. Du weißt nicht, was sein soll. Du glaubst nur zu wissen, was sein soll.“ Ich habe nicht die geringste Ahnung von der unendlichen Komplexität des Lebens, kann nicht im Entferntesten abschätzen, was das Leben noch alles mit mir vorhat. Und so wird es zu einer bewussten Entscheidung, dem Vertrauen zu folgen, dass alles, was geschieht, aus irgendeinem Grund passieren muss: „Vertrauen ist nicht die Hoffnung, dass alles gut sein wird. Vertrauen ist das Wissen, dass alles gut ist – ob ich es verstehe oder nicht.“