Als Sie nach so langer Zeit in die Zivilisation zurückkehrten, dauerte es da lange, wieder ein halbwegs normales Leben zu leben? Ich erinnere mich immer wieder an folgende Situation: Ich wurde befreit und eine halbe Stunde später stiegen wir vom Helikopter in das Flugzeug des französischen Präsidenten um, das vor Ort bereitstand. Im Flugzeug sprach der Anführer der kolumbianischen Armee, General Montoya, zu mir, es war unmittelbar nach meiner Befreiung und ich stand noch unter Schock. Mitten im Gespräch fragte ich ihn: „General, geben Sie mir die Erlaubnis, auf die Toilette zu gehen?“ Er sah mich an und hatte beinahe Tränen in den Augen, dann sagte er: „Du bist frei, frei. Diese Frage musst du nie wieder stellen!“ Jedes Mal wenn ich aufwache, und es sind nun acht lange Jahre seit meiner Befreiung her, ich meine Augen öffne und ein Dach über meinem Kopf sehe, atme ich tief durch. Das passiert jeden Tag.
Sie erhielten nach Ihrer Befreiung zahlreiche Auszeichnungen, Sie trafen Präsident Obama, den Papst, König Juan Carlos. Wie sieht heute, acht Jahre später, Ihr Alltag aus? Ich bin sehr glücklich. Wir haben unsere Familie wieder aufgebaut und die Liebe zwischen uns ist ein Wunder. Das Trauma bleibt im Spiegel, wir weinen auch oft und manchmal ist es schwierig. Aber die Sensation, dass wir nach all der Zeit der Trennung wieder eine Familie sind, dass wir diese Nähe, dieses starke Band spüren, dass wir einander vertrauen können, es keine Grenzen gibt, dass wir uns gegenseitig helfen und zusammen sind – das ist mein größter Erfolg in all den Jahren. Die Welt selbst überrascht mich immer wieder mit dem Guten und ihrer Menschlichkeit. Ich bin heute fähiger dazu als früher, das Gute im Menschen zu sehen. Und ich suche heute viel bewusster danach. Wenn ich sehe, wie die Franzosen auf die Terrorangriffe reagieren oder die Kolumbianer den Weg des Friedens gehen und den Friedensvertrag unterzeichneten, um eine neue Art der Beziehung für den Frieden aufzubauen, sehe ich das Gute im Menschen und freue mich darüber.
Nach 52 Jahren des Terrors und Kampfes haben die kolumbianische Regierung und die FARC, die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, die Guerillabewegung, die Sie entführte, einen Friedensvertrag abgeschlossen. 200.000 Menschen starben in diesen fünf Jahrzehnten. Was war Ihr erstes Gefühl, als Sie vom Peace Deal hörten, der diese schwere Zeit beenden sollte? Erleichterung. Es war keine überschäumende Freude, die ich später erlebt habe. Es war zunächst das Bewusstsein, dass eine lange, tiefe Erschöpfung belohnt wurde mit der Möglichkeit, zu sehen, dass meine ehemaligen Geiselnehmer verstanden haben, dass es so nicht weitergehen kann. In der FARC verwenden sie nie Wörter wie Bekenntnis oder Anerkenntnis, sie sprechen nur von Berichtigung. Sie entschuldigen sich niemals. Sie korrigieren etwas nur, sie sind da eigen, das ist noch die marxistische Doktrin. Aber später habe ich doch tatsächlich gesehen, wie die Führer der FARC um Vergebung gebeten haben. Das hat mich sehr berührt.
Rodrigo Londoño war derjenige, der sich bei den Opfern der FARC entschuldigt hat. Aber reicht es wirklich aus, zu sagen: „Es tut mir leid“? Ist das genug? Das ist eine sehr gute Frage. Aber was ist schon genug? Glauben Sie wirklich, irgendetwas könnte „genug“ sein? Ist eine Wiedergutmachung für unser Leid, für den Tod meines Vaters genug, für meine Kinder, die ohne ihre Mutter aufwachsen mussten, für die Nächte, in denen meine Mutter wach lag und vor Sorgen weinte, für die Demütigungen, den Horror, jahrelang in diesem Dschungel zu leben? Nichts wird jemals genug sein. Aber es gibt Dinge, die zählen. Zu sagen: Es tut mir leid – das zählt.
Können Sie Ihren Kidnappern vergeben? Ich versuche es aus ganzem Herzen. Und wenn ich das sage, meine ich das auch so, denn mein Herz hat Schwierigkeiten, zu vergeben. Mein Verstand ist sehr klar, dass dies der richtige Weg ist. Aber meine Gefühle sind anders. Es ist schwierig für mich, die Uniformen der FARC zu sehen oder ihre Dschungelcamps, in denen sie den Medien sagen, sie seien im Friedensprozess. Zu sehen, dass alle so freundlich sind, während es für mich eine Qual war. Es ist wahr, und ich habe das auch mit einigen der anderen Geiseln besprochen, es verlangt eine große Überwindung vom Herzen, zu sagen, dass wir diesen Frieden begrüßen und willkommen heißen. Es ist nicht, dass wir nicht darunter leiden, aber in Abwägung dessen, was der Frieden bringen und künftigen Generationen an Leid ersparen kann, zählen unsere Gefühle nicht. Die künftigen Generationen werden von diesem Frieden profitieren, und das ist, was zählt. Sie sollen in einem Land aufwachsen, von dem wir immer geträumt haben, ohne Gewalt, mit Vertrauen und Leidenschaft.
Glauben Sie tatsächlich, dass die Mehrheit der Kolumbianer vergeben kann? Ich denke, die Mehrheit der Kolumbianer sind die nettesten Menschen der Welt. In einem Krieg kommen die wirkliche Gewalt, die Grausamkeiten und der Hass von einer kleinen Minderheit. Die Frage wird also sein: Sind wir stark genug das Rad der Liebe über die Kraft des Hasses zu stellen? Ich denke, das ist eine spannende Herausforderung, und ich hoffe, wir werden Erfolg haben.
Die FARC soll eine politische Partei werden. Sie sagten unmittelbar nach Ihrer Befreiung, dass Sie sich vorstellen könnten, nochmals in die Politik zu gehen. Ist das noch immer eine mögliche Option? Es könnte eine Möglichkeit sein. Aber es hat keine Priorität für mich.
Wovon hängt Ihre Entscheidung ab? Von meiner Familie, von der Situation des Landes und davon, wie sinnvoll ich es halte.Nur aus persönlichem Ehrgeiz würde ich nie zurückkehren. Ich habe keinerlei persönlichen Ehrgeiz mehr. Und ich will nicht instrumentalisiert werden, zumindest nur für Dinge, die ich auch will.
Der ehemalige kolumbianische Präsident Uribe sagte, dass er der FARC nicht traut, dass sie zu ihren Versprechen stehen. Trauen Sie der FARC? Wir haben eine unterschiedliche Sicht auf Menschen, Präsident Uribe und ich. Er glaubt, dass sich Menschen nicht verändern können. Ich bin Christin und habe eine andere Auffassung. Ich weiß, dass wir durch das, was wir denken und woran wir glauben, Dinge verändern können. Ich denke, dass die FARC mit ihrer Kapitulation, mit der Abgabe ihrer Waffen, der Aufgabe von Gewalt, der Bereitschaft, in einer Demokratie mitzuspielen – was schwierig ist – sie verändern wird. Ich bin da ganz sicher. Es wird uns Kolumbianer verändern, aber ebenso die FARC.
Glauben Sie, wird eine solche Veränderung zur Demokratie möglich sein? Seit ich vor 15 Jahren entführt wurde bis heute haben sich die Menschen in meinem Land unglaublich verändert. Als ich entführt wurde, dominierten Hass und Gewalt das Land. Sie konnten an nichts anderes denken als an Vergeltung. Heute, nach einem langen Krieg, wissen wir alle, dass die Vernichtung und Auslöschung niemals die Antwort sein kann. Wir wissen, dass wir Seite an Seite leben können mit Menschen, die andere Meinungen haben. Aber wenn wir dieselben fundamentalen Wert haben – Freiheit, Respekt, Gerechtigkeit – dann ist es möglich, zusammen zu leben.