Der Trendexperte
Harry Gatterer ist Geschäftsführer des Zukunftsinstituts. Er ist Experte für Megatrends und Zukunftskompetenz und gilt als einer der führenden Trendforscher.
Ihr neuer Zukunftsreport trägt den Titel „Ist die Zukunft verschwunden?“. Ziemlich ungewöhnlich für ein Zukunftsinstitut.
Wir haben mittlerweile eine unfassbare Komplexität erreicht in dem, was wir Gesellschaft nennen, in den Subsystemen Wirtschaft, Politik, Legitimation, Gemeinschaft. Paul Watzlawick hatte mal gesagt: Das Gegenteil von Kommunikation ist Tarnung. Gewissermaßen das passiert gerade mit der Zukunft. Sie tarnt sich. Sie ist ja nicht verschwunden im Sinne von: Es gibt keine Zukunft mehr. Sondern im Sinne von: Sie ist einfach überhaupt nicht mehr eindeutig. Die Richtung ist nicht klar und wir wissen auch nicht, wohin es geht.
Ihre Arbeit ist schwieriger geworden.
Das Zukunftsinstitut gibt es jetzt seit 25 Jahren. Damals hat es gereicht, wenn man als Thinktank operiert hat, wenn sich schlaue Köpfe zusammensetzen und ihre Eindrücke so übereinanderlegen, dass daraus erkennbar wird, was mögliche Richtungen der Zukunft sind. Das funktioniert so nicht mehr. Wir müssen deutlich stärker differenzieren. Wir müssen datengetrieben arbeiten. Anders kann man sich heute gar nicht mehr in dieser Komplexität bewegen. Das Wesen von Komplexität ist ja, dass sie unsichtbar ist. Wir können Komplexität nie sehen. Dementsprechend müssen wir uns natürlich behelfen, sie sichtbar zu machen. Was wir im Zukunftsinstitut entwickelt haben, sind Werkzeuge, um damit umzugehen. Zukunftsforschung heute ist deutlich mehr evidenzbasiert, deutlich mehr datengetrieben, deutlich mehr technologisch. Diese verschwundene Zukunft führt ja im Umkehrschluss zu einer gewissen Orientierungslosigkeit, zu einer Rastlosigkeit. Da wollen wir wieder herausarbeiten: Was sind Einflussfaktoren, auf die man jetzt wirklich achten muss? Oder die man tatsächlich, wenn man die eigene Zukunft entwickeln will, berücksichtigen muss.
Max Roser, der „Our World In Data“ der Oxford University leitet, sagt: Die globale Armut ist das größte Problem unserer Zeit. Welcher Megatrend korrespondiert mit diesem Thema? Oder ist es uns als zivilisierte Gesellschaft egal?
Ich vermute, es ist uns egaler, als es sein sollte. Wir hatten im Herbst in Österreich das Hochwasser, die Flutkatastrophe, und die Medien-Coverage dazu. Was wir nicht mitgekriegt haben, ist, dass zum selben Zeitpunkt, wo in Österreich unglücklicherweise zwei Menschen verstorben sind, an diesem Hochwasser in Afrika 500 Menschen starben und vier Millionen obdachlos wurden. Das haben wir in Österreich nicht mitbekommen, bis heute nicht. Das heißt, wir haben uns da eine unfassbare Bubble aufgebaut, in der wir die Welt wahrnehmen. In der Trendforschung können wir nicht nur mit quantitativen Daten arbeiten. Denn Trendforschung bedeutet immer eine entdeckerische Forschung, nicht nur eine bestätigende, was quantitative Daten ergeben. Es gibt einen Megatrend, der heißt Globalisierung. Und natürlich ist das einer der wesentlichen Treiber nach wie vor. Wobei sich die Globalisierung heute völlig anders darstellt, als sie das vor 20 Jahren gemacht hat. Und Europa nimmt da drin eine immer schwächere Position ein. Das ist sozusagen ein Effekt dessen, dass wir uns immer mehr in eine Bubble begeben haben. Die deutsche Autoindustrie kann noch immer nicht glauben, dass andere auch Autos bauen können.
Haben wir eine äußerst selektive Wahrnehmung der Welt?
Wenn man betrachtet, wie die amerikanische Wahl gecovert wurde, so ist dies sagenhaft. Wenn man aber zur selben Zeit analysiert, worüber alles nicht berichtet wurde, muss man sagen: Wir haben eine Wahrnehmungsbubble.
Ist es nicht so, dass einfach die menschliche Betroffenheit mit dem Quadrat der Entfernung einfach abnimmt? Wenn der Nachbar stirbt, berührt uns das mehr als die Tatsache, dass jeden Tag 16.000 Kinder sterben.
Die menschliche Wahrnehmung ist sehr stark geprägt durch Emotionalität. Emotionen sind immer der Gradmesser dafür, ob uns etwas sehr wichtig ist, ob uns etwas sehr nahe geht, auch wenn es weit weg ist. Es geht um die emotionale Betroffenheit, die entsteht durch Bedeutung. Wem gebe ich eine Bedeutung? Was ist für mich wichtig? Eine Flut in Afrika ist erst mal für uns nicht wichtig. Wenn wir es zufällig sehen, sagen wir: „Oh Gott, die Armen!“ Dann war es das wieder. Durch unsere ganzen Informationsimpulse, die wir die ganze Zeit über kriegen, haben wir tendenziell weniger Bedeutungsverbindungen, die uns wichtig sind. Je komplexer die Welt ist, desto mehr kapseln wir uns ein.
Sie sagen, New Work ist ein Megatrend. Wie hat sich unsere Arbeit verändert? Wie wird die Arbeit von morgen aussehen?
Die Bedeutung der Technologie hat ein neues Level erreicht, nämlich eines der systemischen Relevanz. Die Technologie ist nicht einfach nur ein Werkzeug, sondern Technologie und Mensch bilden gewissermaßen ein gemeinsames, integriertes System, die technosoziale Arbeitswelt. Wenn Sie sich vorstellen, in wie vielen Meetings auf der Welt der Copilot von Microsoft Meetings zusammenfasst und protokolliert, dann ist das beeindruckend. Früher hieß es, wer in einem Meeting das Protokoll schreibt, verfasst die Wahrheit. Wenn das jetzt Copilot macht, hat das schon ein neues Level, weil im nächsten Meeting wird man sich darauf beziehen. Wenn zum Beispiel in der Landwirtschaft Drohnen eingesetzt werden, so ist das ein Level, das viele noch gar nicht realisieren. Übernehmen Maschinen die Herrschaft? Nein, aber wir brauchen diese Synergie mit ihnen. Auf der anderen Seite spüren wir dadurch diese Sehnsucht nach menschlicher Berührung, die Human-to-Human Experience. Das generationenübergreifende Arbeiten wird zum großen Thema.
Vor uns liegt ein riesiges soziales Experiment. Wie kann eine ältere Gesellschaft prosperieren?
Sie fordern eine Responsible AI. Künstliche Intelligenz unterliegt keinem linearen Wachstum, sondern einem exponentiellen. Wenn man Elon Musk & Co. beobachtet, so haben die Big Player wohl herzlich wenig Interesse an Auflagen für eine Responsible AI.
Das ist eine Entwicklung, die wurde losgetreten und ist extrem. Die europäische Perspektive ist ja der Versuch, für AI Regeln zu schreiben. Nur: Wir haben ja die Technologie nicht. Wir machen Regeln für eine Technologie, die nur andere haben. Niemand kann sagen, wo diese Entwicklung hingeht. Alleine wenn man sich OpenAI ansieht, realisiert man, was da für ein gigantischer Aufwand dahintersteckt. Saudi-Arabien zum Beispiel hat einen großen Einfluss auf US-Konzerne, weil die an vielen beteiligt sind, wo wir das nicht einmal mitbekommen. Wir haben AI, die aus China kommt. Das wird noch ein wilder Weg. Überall, wo AI eine Rolle spielen kann, wird sie es auch. 2025 ist das Jahr, wo man AI aus der Zukunft endgültig rausnehmen muss, weil sie längst Gegenwart ist. Die komplexe Logistik des Hamburger Hafens, um ein reales Beispiel zu nennen, wäre ohne AI nicht mehr umsetzbar.
Speziell im Gesundheitsbereich steht AI im Zentrum, von digitaler Bilderfassung und Auswertung bis zur Diagnose.
Der Bereich Enabled Prevention wird besonders wichtig. Hier geht es nicht um Prävention im Sinne: Das Individuum kümmert sich jetzt plötzlich um sich selber, sondern es ist eine systemische Entwicklung. Systeme werden so umgebaut, dass du dich beginnst, um dich selber kümmern zu müssen.
Sie nennen den Megatrend Silver Society.
Wir haben ein Bevölkerungswachstum der Mittelschicht. Je größer die Armut, desto mehr Kinder hat eine Familie. Je mehr Wohlstand ins Spiel kommt, desto weniger Kinder hat man. Der Fokus geht ganz stark auf die eigene Perspektive, das eigene Leben. Die Lebenserwartung wird übrigens weiter steigen. Vor uns liegt ein riesiges soziales Experiment. Wie kann eine ältere Gesellschaft prosperieren? Wie kann sie sich entwickeln? Wie können wir dieses soziale Experiment des Altwerdens als Gesellschaft handhaben? Das wird unser großes Thema werden.