Das rote Backsteingebäude wirkt von außen wie eine Elite-Universität: eine parkähnliche Anlage mit pompöser Auffahrt zum Hauptgebäude, sechs monumentale Säulen beim Eingang, ein großer Turm mit Kupferdach über dem Hauptportal. Der Sänger und Bürgerrechtler Harry Belafonte, dessen „Banana Boat Song (Day-O)“ ihn weltberühmt machte, drückte hier ebenso die Schulbank wie der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger.Doch der Schein trügt. Die George Washington High School in der Audubon Avenue ist eine Gemeindeschule, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hat.Â
Es geht bergab. Der Gemeindeschuldirektor Peter Tinguely, 32, arbeitet seit sechs Jahren für Catholic Charities, eine katholische Organisation, die benachteiligten Kindern hilft. In der George Washington High School ist er mittlerweile das vierte Jahr. Vier verschiedene Schulen sind in dem imposanten Gebäude untergebracht, der Sportplatz ist einer der größten Schulsportplätze Amerikas. Alle vier Schulen haben unterschiedliche Namen, Direktoren, Verwaltungen und Studenten. Früher war die George Washington eine High-Performing-School mit hohem Leistungsniveau, doch seit den 1990er-Jahren ging es mit der Qualität der Leistungsvermittlung stetig bergab.
Der Erfolg einer Schule in New York und generell in Amerika hängt von einer Vielzahl sozialer Faktoren ab. Wenn ein Schüler ordentliche Leistungen erzielen soll, muss sein Umfeld stimmen. Er muss in der Schule ebenso wie zu Hause sicher sein. „Wenn man an eine Hierarchie im Leben denkt“, sagt Tinguely, „was wirklich wichtig ist, dann kommt Bildung nicht an oberster Stelle. Du brauchst in erster Linie Essen, eine Unterkunft, Sicherheit. Ist dies nicht vorhanden, wird Lernen einfach weggeschoben. Wenn du nicht weißt, woher deine nächste Mahlzeit kommt oder du kein Zuhause hast, dann kannst du nicht über Rechenbeispiele nachdenken.“
Gibt es Schüler in Ihrer Schule, die nicht wissen, woher die nächste Mahlzeit kommt?
Ja, absolut. Keine sicheren Mahlzeiten zu haben, ist an unserer Schule ein großes Problem. Rund 30 Prozent unserer Schüler haben auch kein Zuhause, sondern leben in Notunterkünften oder bei Gemeinschaftsquartieren. Viele unserer Schüler haben keine Papiere. In den USA herrscht eine große nationale Angst vor Menschen ohne Geburtsurkunde. Es gibt also eine Menge sozialer Herausforderungen, denen wir uns hier stellen müssen. Das sind Faktoren, die für das schlechte Leistungsniveau mitverantwortlich sind.
Was muss geschehen, damit sich die Situation für die Schüler verbessert? Einerseits gibt es in New York Apartments, die 70 Millionen Dollar kosten, anderseits wissen in derselben Stadt viele Kinder nicht, ob sie heute hungrig ohne Mahlzeit ins Bett gehen müssen. Als Europäer kann man das kaum nachvollziehen.
Als Amerikaner auch nicht. Es gibt so viel Ungleichheit und Ungerechtigkeit in diesem Land, das ist empörend. Geld ist in unserem System so mächtig, dass du ohne keine Rechte hast. Du hast nicht die gleichen Chancen wie andere Menschen. Bildung ist das perfekte Beispiel, das Justizsystem ebenso. Wenn du kein Geld hast, bist du massiv benachteiligt. Es geht um Geld, Privilegien und Macht. All das spielt beim Status unserer Schule eine Rolle.
Ihr ehemaliger Schüler Henry Kissinger, der weltweit perfekt vernetzt ist, müsste wohl nur drei Telefonanrufe machen, um Millionenspenden für die Schule einzusammeln. Hat man das je versucht?
Ich denke, wenn man an dieser Schule Henry Kissinger einbinden wollte, könnte man das sicher tun. Aber man braucht dafür eine geeignete Aufgabe. Nur nach Geld zu fragen ist keine Lösung. Man kann nicht einfach die Probleme mit Geld zuschütten.
Benennen Sie doch einfach Ihren Festsaal in „Henry Kissinger Auditorium“ um, wie es Museen oder Kliniken hier in New York auch machen – gegen eine Spende von einer Million US-Dollar.
So etwas wäre sicher denkbar und möglich. Aber die Frage bleibt dennoch: Wie können wir ein gerechteres und für alle gleiches Schulsystem schaffen? Es gab Schulversuche im ganzen Land dazu. Geld ist nicht immer die Lösung. Wenn wir jede Menge Geld an dieser Schule hätten, heißt das nicht automatisch, dass ein Schüler jemanden hat, der ihm bei seinen Hausaufgaben helfen kann. Oder der ihm daheim ein Essen auf den Tisch stellt. Viele unserer Kinder haben Eltern, die zwei, drei Jobs haben. Sie können nicht einfach zu Hause sein, wann sie wollen, weil sie für einen Mindestlohn arbeiten. Es reicht also nicht aus, Geld in die Schule zu stecken, man benötigt auch Geld für die Familien und die Gemeinschaft. Wir brauchen ein stabiles Erziehungssystem, eine stabile Familie und eine stabile Gemeinde, um einem Kind einen sicheren Platz geben zu können, wo es sich entwickeln und zu sich selbst finden kann. Nur wenn es uns gelingt, alle drei Faktoren zu garantieren, dann kann es funktionieren, und Kinder können in Sicherheit erwachsen werden. Geld ist ein Faktor – aber nicht alles.
Die Community School Projects investieren 400 bis 500 Millionen Dollar, um die Schulen und Gemeinschaften zu stärken. Was wird da konkret gemacht?
Die Community Schools sind eine Initiative, die vor einigen Jahren von einer Non-Profit-Organisation in New York gestartet wurde, die mittlerweile auch in Oakland und Cincinnati tätig ist und sehr erfolgreiche Modelle entwickelt hat. Die Catholic Charity, für die ich arbeite, ist einer der Partner, die hier mit einer der vier Schulen der George Washington High School, der „High School for Health Care and Sciences“, zusammenarbeitet. Wir engagieren uns für die Gemeinschaft, die Familien, suchen Möglichkeiten für Schüler und bieten auch psychologische Hilfe an.
Was sicher nicht einfach ist.
Es gibt dabei eine Menge Herausforderungen. All das braucht Zeit, um sich zu entwickeln, vor allem auch, um das Vertrauen der Schüler und Familien zu gewinnen. Wenn unsere Kinder an dieser Schule das Vertrauen in sich selbst entwickeln, dann können sie auch an der Tür anderer klopfen und sagen: „Was ist hier los? Kann ich mitmachen?“ Dann haben wir gewonnen. Die Schüler, die wirklich erfolgreich sind, sind jene, die zum Telefon greifen, anrufen und sagen: „Kann ich bei deinem Programm mitmachen? Kann ich das oder jenes tun?“