Da gibt‘s niemanden, der Sie da rausholen wird. Sie sind einfach umgeben von einer Bevölkerung, die sich gegenseitig umbringt. Aber wir waren so beschäftigt, wir haben Tag und Nacht operiert – wir haben sogar auf dem OP-Tisch geschlafen –, sodass wir eigentlich den Luxus, Zeit für Angst zu haben, gar nicht hatten. Das war vermutlich unser Glück. Ich sehe immer wieder in Kriegsgebieten: Die Menschen gewöhnen sich daran. Wenn Sie das nicht können, werden Sie verrückt.
Was macht man, wenn Narkosemittel oder wichtige Medikamente ausgehen? Lernt man da zu improvisieren?
Ja. Menschen, die in so einem chaotischen Umfeld arbeiten, haben Freude an der Improvisation. Sie wissen nie: Was wird morgen sein? Wann gehen uns die Vorräte aus? Als wir in Nigeria waren, waren alle Nachschubwege abgeschnitten. Es gab keinen Treibstoff mehr. Es war alles dunkel, die ganze Stadt. Dort wurden sogar Menschen wegen eines vollen Benzintanks umgebracht. Besucher, die bei uns im Hospital festsaßen, weil sie nicht mehr zurück in ihre Dörfer konnten, haben wir zu Krankenpflegern umfunktioniert. Wir haben sie zu Operationsassistenten ausgebildet. Jeder, der da war, wurde benutzt und eingesetzt.
Wie muss man sich einen Ihrer Tage im Bürgerkrieg von Ruanda vorstellen?
Man ist nicht jeden Tag nonstop in Aktion. Es gibt Tage, da sitzen Sie einfach herum und warten, weil Sie nicht aus dem Haus können oder nicht wissen, was gerade um Sie herum passiert. Wenn Sie in einem Konflikt sind, der in einem urbanen Umfeld stattfindet – in einer Stadt –, sind Sie dann eigentlich 18 Stunden nonstop im Einsatz. In Nigeria und Ruanda sind wir morgens um 6 Uhr aufgestanden, haben bis Mitternacht operiert, sind dann zurück ins Haus gegangen, haben dort eine Suppe, einen Grießbrei oder irgendetwas gegessen, was es gerade gab, und haben uns dann ins Bett gelegt. Um 6 Uhr sind wir wieder aufgestanden. Man ist überwältigt, wenn plötzlich 500, 600 Schwerverletzte vor Ihnen liegen, und Sie sind nur zwei, drei Ärzte. Wenn es in Österreich oder der Schweiz 500, 600 Schwerverletzte gibt – etwa nach dem Absturz eines großen Flugzeuges, bei dem fast alle überlebt haben –, da würden alle Universitätskliniken im gesamten Land in Alarmbereitschaft versetzt, alle Spitäler mit Notaufnahme wären im Einsatz. Da kämen ein paar Hundert Ärzte und Chirurgen zusammen. Im Krieg waren wir nur zwei oder drei.
Muss man da Menschen zwangsläufig sterben lassen?
In einer solchen Situation müssen Sie Ordnung schaffen. Das heißt, Sie müssen hierarchisch entscheiden, welcher Patient zuerst operiert wird. Wir haben anfänglich 24 Stunden durchoperiert. Bis wir gesehen haben, dass das nichts bringt, weil sich bei uns die Fehler häuften. Wir sind auch nur Menschen und keine Maschinen. Wir mussten da ganz hart einen Schnitt ziehen. Ich entschied: Wir operieren bis Mitternacht, und jeder, der nach Mitternacht kommt und am Morgen noch am Leben ist, wird operiert. Die, die sterben, das war Pech. Mehr können wir nicht tun. Es hat keinen Sinn, mit übermüdeten Ärzten zu arbeiten. Wir haben zweieinhalb Monate in diesem Rhythmus gearbeitet, und keiner hat sich beklagt. Alle von uns haben durchoperiert, weil wir gesehen haben, dass das Leid und das Elend einfach kein Ende genommen haben.
Ich habe unzählige Situationen erlebt, in denen man Exekutionskommandos vor mir aufgestellt oder mir eine Waffe an den Kopf gehalten hat. Richtig Angst hatte ich trotzdem nie. Es würde auch nichts ändern.
Wie geht Ihre Familie damit um, wenn Sie sich in ein Kriegsgebiet verabschieden, und keiner weiß, ob Sie lebend heimkehren?
Es ist seit 25 Jahren jedes Mal das gleiche Dilemma. Wenn Ihnen jemand sagt, das sei kein Problem, spricht er nicht die Wahrheit. Meine Frau, meine Familie hat das irgendwie zu akzeptieren gelernt. Aber es ist jedes Mal eine ganz schwierige Situation, auf die ich mich vorbereiten muss. Und ich bin froh, dass in den letzten zwei Jahren die Missionen etwas kürzer geworden sind, wenn auch häufiger.
Haben die Kriegseinsätze Spuren bei Ihnen hinterlassen?
Ruanda hat seine Spuren hinterlassen. Seitdem bin ich nicht mehr davon abzubringen. Wenn Sie all das Elend und Leid gesehen haben, dann können Sie nie wieder einfach unschuldig in Ihre schöne, heile Welt zurückgehen und nur noch Golf spielen und Partys feiern.
Das geht einfach nicht mehr.
Sie sind als Schönheitschirurg eine Koryphäe. Wie ist das, wenn Sie aus einem Kriegseinsatz zurückkehren und am nächsten Tag vor einer Patientin stehen, die ihre Brust mit Silikon von Körbchen A auf C vergrößern lassen möchte? Kann man das noch so einfach?
Ja, das kann man. Wenn nicht, könnte ich meinen Beruf nicht mehr ausüben. Je schwerer die Mission war, desto schwieriger ist es auch, wieder nach Hause zu gehen. Aber auf der anderen Seite wissen Sie ja auch, dass Sie allein die Welt nicht retten können. Ich gehe eigentlich von der einen in die andere Welt und mache hinter mir die Türe zu. Ich habe gelernt, abzuschließen.
Meine Familie hat genauso ein Recht auf mich, dass ich für sie sorge und ihnen ein angenehmes Leben ermögliche. Wie meine Patienten in einem Kriegsgebiet ein Recht darauf haben, dass ich mich um ihr Leid kümmere.
Wollten Sie schon mal alles hinschmeißen?
Ich kann mich an einen Tag erinnern, als ich aus dem Südsudan zurückkam, da meine erste Patientin sagte: „Ich habe hier immer noch ein Fältchen nach dem Botox-Spritzen.“ Ich antwortete: „Gute Frau, Sie hatten vorher ein paar Hundert Fältchen. Jetzt haben Sie noch eines.“ Sie sagte: „Ja, aber damals habe ich das nicht bemerkt.“ In solchen Momenten würde ich mich am liebsten wieder in den Flieger zurück setzen. Ein älterer Kolleger von mir hatte ein furchtbares Massaker in Kambodscha miterlebt. Als er von seinem Heimaturlaub zurückkehrte, lagen alle Kinder aus seinem Hospital in einem Massengrab. Sie wurden abgeschlachtet. Er kam zurück in die Schweiz, wollte mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren, und im Bus fiel ihn eine Dame an und sagte: „Sie machen mit Ihrem nassen Regenmantel meinen Pelzmantel kaputt!“ Er stieg wortlos aus, rief seine Frau an und sagte: „Ich kann nicht mehr in dieser Welt leben. Ich gehe zurück nach Kambodscha und komme nie wieder zurück.“ Ich habe immer gewusst: Es muss einem gelingen, das zu abstrahieren. Den meisten meiner Kollegen gelingt das nicht. Die wenigsten können das überhaupt machen.
Haben Sie im Ernstfall eine stoische Ruhe?
Ein Vorgesetzter von mir in der Schweiz hat vor vielen Jahren mal gesagt: Du verfügst über Talent und Fähigkeiten, für die wir jetzt in unserer Armee keine Verwendung haben. Damit hat er gemeint, dass ich imstande bin, in chaotischen Situationen Ruhe zu bewahren. Im Militär war ich Fallschirmspringer und Gebirgsjäger, und ich habe mich auch dort nie gefürchtet. Wenn meine Zeit gekommen ist, dann ist sie gekommen. Das kann heute sein, wenn ich mit dem Auto nach Hause fahre, oder eben im Krieg. Wenn‘s Zeit ist, ist es Zeit. Wir sind keine Selbstmörder. Wir sind auch nicht leichtsinnig oder todesmutig. Wir gehen mit einem sehr kalkulierten Risiko ans Werk. Die Misere, die wir da haben mit all den Konflikten um uns herum, hängt schon ein bisschen damit zusammen, dass wir keine starken Persönlichkeiten in unserer Politik mehr finden, die den Mut haben, sehr unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Das wird von Jahr zu Jahr schlimmer.