Frau Professor Charpentier, CRISPR/Cas9 wird als eine der wichtigsten Entdeckungen des Jahrhunderts angesehen. Als Sie mit Ihrer Forschung begonnen haben, welche Vision trieb Sie an?
Zunächst einmal würde ich die Entdeckung tatsächlich als eine der bahnbrechendsten der letzten 30 oder sogar 50 Jahre bezeichnen. Die CRISPR-Cas-Technologie hat in der Tat eine große Wirkung. Es gibt viele Entdeckungen, die sehr wichtig sind, aber auf dem Gebiet der Biowissenschaften gilt CRISPR/Cas9 wirklich als die revolutionärste neue Technologie. Die Reise dorthin war für mich klarer als für jeden anderen. Ich habe meine Forschung seit meinem Master und meiner Promotion am Institut Pasteur in Paris immer mit dem Ziel betrieben, mich auf jene Mechanismen des Lebens zu konzentrieren, die wichtige Anwendungen im Bereich der Biowissenschaften, insbesondere in der Medizin, haben würden. Das war immer mein Leitmotiv.
Sie haben 2006 mit der Forschung zu CRISPR/Cas9 begonnen?
Als wir 2006 in meinem Labor mit der Arbeit an CRISPR begannen, verfolgte ich genau diesen Ansatz, das heißt ich wollte zunächst herausfinden, welche Anwendungen CRISPR haben könnte. Erst dann konzentrierte ich mich auf den Mechanismus, der dorthin führen könnte und der sich als sehr ausgeklügelt und vielseitig erwies: CRISPR/Cas kommt in der Natur vor und wurde dann durch die Forschung als leistungsfähige Gentechnik nutzbar gemacht. Mir war von Anfang an klar, dass CRISPR zu den Mechanismen in den Zellen gehört, die auf RNA (Anm.: Ribonukleinsäure, die in der Zelle genetische Informationen in Proteine umwandelt) basieren, die auf die DNA (Anm.: Desoxyribonukleinsäure, den Träger der genetischen Information in allen lebenden Organismen und DNA-Viren) abzielen, und dass der Mechanismus daher das Potenzial hat, zu einer leistungsfähigen Gen-basierten Technologie entwickelt zu werden.
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Dass CRISPR funktioniert, war Ihre letzte Erkenntnis nach sieben Jahren in Wien, unmittelbar vor Ihrem Umzug nach Schweden. Wussten Sie, dass es die Welt verändern würde?
Wir hatten das Potenzial der CRISPR-Forschung bereits mit einem ersten Experiment erkannt, dass die CRISPR/Cas9-Maschinerie, gesteuert von einem Dual-RNA-Molekül, DNA spaltet. Es gab zwei Heureka-Momente, gefolgt von zwei Artikeln, von denen einer 2011 in „Nature“ und der zweite 2012 in „Science“ veröffentlicht wurde (Anm.: zwei der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften der Welt). Beim ersten Heureka-Moment verstanden wir die Komponenten des Systems und dass es ein großes Potenzial für die Genetik hätte, wenn wir wirklich zeigen könnten, dass es tatsächlich DNA spaltet. Der zweite Heureka-Moment kam, als ein polnischer Student von mir in Wien zeigen konnte, dass CRISPR/Cas9 tatsächlich DNA schneidet. Ich hatte jahrelange Erfahrung nicht nur in Mikrobiologie, sondern auch in Molekularbiologie und Genetik. Bevor ich Anfang der 1990er Jahre meinen Master-Abschluss machte, beschäftigte ich mich mit Gentherapie. Daher konnte ich mir die Anwendung von CRISPR/Cas in der menschlichen Gentherapie gut vorstellen.
Der österreichische Genetiker Josef Penninger sagte zu mir über CRISPR/Cas9: „Jetzt können wir die Evolution selbst gestalten. Wir können Pflanzen entwickeln, die in der Wüste leben können.“ Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen, was wird alles möglich?
Sicherlich ist vieles davon heute schon möglich, aber CRISPR/Cas kann sogar noch mehr Anwendungsmöglichkeiten bieten. Als wir vor 12 Jahren zusammen mit meiner Kollegin Jennifer Doudna in „Science“ den Leitfaden für den Einsatz von CRISPR/Cas9 als präzise gentechnische Chirurgie veröffentlichten, war klar, dass die Anwendungen weitreichend sein würden. Tatsächlich dauerte es zehn Jahre, bis die Technologie von den Zulassungsbehörden in den USA, FDA, und Europa, EMA, für die Behandlung bestimmter genetischer Störungen von Blutzellen zugelassen wurde. Das sind Leistungen des Biotech-Unternehmens CRISPR Therapeutics, das ich zusammen mit Rodger Novak und Shaun Foy gegründet habe. Die ersten klinischen Versuche begannen fünf Jahre nach der Entdeckung. Das war die Vision: zunächst das Konzept der Nutzung der CRISPR-Technologie als direktes Medikament für die Behandlung einiger weniger Krankheiten gezielt zu beweisen. Dank der großen Anstrengungen von Wissenschaftlern, Entwicklern und Klinikern in der Biotechnologie, der pharmazeutischen Industrie und dem klinischen Bereich werden nun weitere Anwendungen der Technologie in der Medizin entwickelt: zum Beispiel zur Behandlung bestimmter Krebsarten. Dies geht weit über das Spektrum der genetischen Störungen hinaus, die wir noch nicht heilen können und für die CRISPR/Cas nun weiterentwickelt wird.
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Welche Bereiche beeinflusst CRISPR/Cas9 sonst noch?
Weitere Einflussbereiche, in denen CRISPR einen großen Einfluss haben soll und bereits hat, sind Biotechnologie, Biokraftstoffproduktion und Landwirtschaft. Wie Josef Penninger sagte, gilt dies auch für die Herausforderungen bei der Bewältigung des globalen Klimawandels und der Erzeugung von Pflanzen, die sich besser an drastische Klimaveränderungen anpassen können. Der Klimawandel ist eine große Belastung für die Pflanzen von heute. Es ist notwendig, Pflanzen zu entwickeln, die diesen Veränderungen standhalten und sich ihnen anpassen können. Dies kann durch CRISPR auf präzise Art und Weise ermöglicht werden. Es ist zu erwarten, dass in Zukunft neue Gentechnologien entstehen werden, die den genetischen Werkzeugkasten von CRISPR dank neuer Entdeckungen aus der mikrobiologischen Grundlagenforschung ergänzen werden.
Es gibt viele Infektionen auf der Welt, die durch Bakterien verursacht werden. Wie sehen Sie die Gefahren, die von Bakterien ausgehen, gegen die wir kein wirklich wirksames Antibiotikum haben? Könnte eine antibiotikaresistente Infektion die nächste Pandemie auslösen?
Ja, das Thema meiner Doktorarbeit Ende der 1990er Jahre war die Antibiotikaresistenz bei Bakterien. Angesichts der Zunahme von Bakterienstämmen, die schon damals gegen Antibiotika resistent waren und auch heute noch sind, ist das wirklich ein sehr ernstes, aktuelles und besorgniserregendes Thema geworden, mit dem man sich intensiv beschäftigen muss. Ein Beispiel ist die SARS-Cov-2-Infektion: Die extrem schnelle Entwicklung eines Impfstoffs war möglicherweise einer neuen Technologie zu verdanken, die auf der Grundlage der Grundlagenforschung zu RNA-Molekülen entwickelt wurde. Das Problem bei der Behandlung bakterieller Infektionen ist, dass die Entwicklung eines Antibiotikums viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Entwicklung eines Impfstoffs. Wir haben auch gesehen, dass die Pharmaindustrie in den letzten 20 Jahren die Forschung auf dem Gebiet der Antibiotika eingestellt hat, weil diese Forschung nicht rentabel ist, was zur Folge hat, dass auch das Fachwissen in diesem wichtigen Bereich verschwindet. Die Mikrobiologen, die die Mechanismen der Antibiotikaresistenz erforscht haben und Experten auf diesem Gebiet waren, sind jetzt im Ruhestand oder gehen in Pension. Die Antibiotikaresistenz bleibt daher eine enorme Herausforderung für die Zukunft. Nur wenn wir die Grundlagenforschung zur Antibiotikaresistenz verstärken, die Zahl der Experten in der Bakteriologie erhöhen und die Biotech-Unternehmen und die Pharmaindustrie ermutigen, Geld und Zeit in diese Forschung zu investieren, wird es möglich sein, der dramatischen Situation entgegenzuwirken. Nur so kann sichergestellt werden, dass wir im Falle einer Pandemie, die durch neuartige antibiotikaresistente Bakterienstämme verursacht wird, rechtzeitig ein Heilmittel entwickeln können.
Uns stehen also schwere Zeiten bevor?
Ja.
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Welchen Einfluss hat die Einleitung von Krankenhaus- oder Lebensmittelindustrieabwässern in Kläranlagen auf die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen?
Das ist eigentlich nicht mein Fachgebiet. Aber alles, was mit Wasser zu tun hat, wirkt sich letztlich auch stark auf unsere Lebensmittel aus, denn antibiotikaresistente Stämme haben sich auch durch den Verzehr von Fleisch von Tieren verbreitet, die mit Antibiotika überbehandelt wurden. Dieser gesamte Aspekt des Ökosystems von Lebensmitteln und Wasser hat einen direkten Einfluss auf die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen. Bei der Behandlung von Infektionskrankheiten sollten Antibiotika nicht leichtfertig verabreicht werden, wenn die Infektion offensichtlich nicht bakteriell, sondern viral bedingt ist. Ärzte verabreichen Antibiotika oft viel zu schnell. Dies hat einen großen Einfluss auf die Ausbreitung von antibiotikaresistenten klinischen Keimen. Es müssen also immer wieder neue Lösungen gefunden werden.
Für wie wichtig halten Sie die effiziente Entfernung von Krankheitserregern, von Mikroplastikpartikeln, von Arzneimitteln, von Rückständen aus dem Abwasser oder aus dem Wasserkreislauf durch innovative Technologien?
Es handelt sich um einen äußerst wichtigen Bereich, vor allem heutzutage, wo uns so viele Technologien zur Verfügung stehen, um genau diese Herausforderungen zu bewältigen. Noch wichtiger ist, dass man jetzt versteht, dass dies ein wichtiges Thema ist, das politisch und gesellschaftlich angegangen werden muss. Jeder von uns hat eine Verantwortung für das, was wir tun.
Wie sehen Sie generell die Frage der Moral und Ethik? Im Jahr 2019 hat der chinesische Wissenschaftler He Jiankui die Welt mit der Ankündigung überrascht, dass die ersten drei gentechnisch veränderten Babys bereits geboren worden sind. Wie groß ist die Gefahr des Missbrauchs?
Der Einsatz der CRISPR-Technologie zur genetischen Veränderung der Keimbahn durch He Jiankui ist, gelinde gesagt, höchst beunruhigend. Diese Anwendung wurde insbesondere in China und von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt scharf verurteilt. Die Technologie für diese Art von Anwendung ist noch nicht ausgereift. Anwendungen sollten sich auf die Behandlung von Patienten beziehen und nicht auf Transhumanismus. Wenn man 12 Jahre zurückblickt, gab es viele Bedenken wegen des möglichen Missbrauchs unserer Technologie. Wir sehen jedoch, dass sie auch heute noch richtig eingesetzt wird. Wir haben pränatale Diagnostik und In-vitro-Fertilisation, die CRISPR/Cas9 nicht wirklich brauchen. Bislang wird die Technologie von allen für gute Zwecke eingesetzt, auch wenn es natürlich immer ein Risiko gibt.
Woran arbeiten Sie derzeit?
In meinem Labor gibt es nur noch eine Person, die an CRISPR arbeitet. Wir konzentrieren uns weiterhin auf molekulare Mechanismen in Bakterien, die es uns ermöglichen zu erklären, wie Bakterien im menschlichen Wirt überleben und Krankheiten verursachen können. Wir widmen uns diesen Mechanismen in der Hoffnung, dass wir durch unsere Forschung entweder neue Angriffspunkte für neue therapeutische Maßnahmen zur Abtötung von Bakterien finden oder auch neue Mechanismen, die die Entwicklung weiterer Technologien ermöglichen, die auf DNA oder RNA wirken oder diese nutzen.
In den letzten acht Jahren wurden Sie sieben Mal in die OOOM 100-Liste der inspirierendsten Menschen der Welt aufgenommen – sie wird künftig übrigens CALL 100 heißen. Sie stehen damit auf einer Stufe mit dem Dalai Lama, Sir Richard Branson, Malala Yousafzai und Oprah Winfrey. Was bedeutet es für Sie, nicht für Ihre wissenschaftlichen Leistungen, sondern als Inspiration für andere anerkannt zu werden?
Ich habe viele Jahre lang – sehr konzentriert – in meinem Labor gearbeitet, und plötzlich stehe ich im Rampenlicht. Ich fühle mich sehr geehrt, aber ich sehe mich sicher nicht auf der gleichen Ebene wie die vielen anderen inspirierenden Menschen, die in Ihrer Zeitschrift OOOM vorgestellt werden. Was ich immer wieder höre, ist, dass ich inspirierend zu sein scheine, zumindest für die jüngere Generation, denn gerade heutzutage brauchen junge Menschen eine Beziehung zu einem Charakter, einer Persönlichkeit, zu jemandem, der echt ist. Vielleicht sehe ich nicht so alt aus wie andere Wissenschaftler, die eine bahnbrechende Entdeckung gemacht haben, vielleicht kann ich auch einige Botschaften vermitteln, die für sie wichtig sind. Botschaften, auf die sie sich beziehen und die sie wiedererkennen können und die für sie hilfreich sind, dessen bin ich mir bewusst. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die Leute mich „inspirierend“ nennen.
Aber sind Sie nicht stolz auf Ihre revolutionäre Arbeit?
Wenn ich auf meine Erfolge zurückblicke, habe ich ein etwas seltsames Gefühl und frage mich, ob ich derjenige bin, der hinter diesen Erfolgen steht? Wenn ich meine eigene Biografie lese, habe ich manchmal den Eindruck, dass ich die Biografie eines anderen lese. Dabei sind meine Leistungen mit denen der Mitglieder meiner Teams in den letzten 20 Jahren sehr eng verbunden. Heutzutage sind viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens inspirierend, aber sie gehören nur sehr selten zu der Kategorie der Wissenschaftler. In der Vergangenheit, vor einem Jahrhundert, waren die inspirierenden und einflussreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle, aber das hat sich geändert. Ich finde es interessant und sehr beeindruckend – nicht für mich persönlich, sondern als Vertreter der Wissenschaft – dass ein Wissenschaftler „inspirierend“ sein kann. Für mich bedeutet das, dass die Menschen vielleicht mehr an der Wissenschaft interessiert sind, als wir denken. Wenn wir den Menschen interessante Wissenschaft näherbringen werden sie sich dafür interessieren. Das ist wichtig, denn wir müssen die jüngere Generation wirklich ermutigen, sich für die Wissenschaft zu begeistern. Der Erfolg der zukünftigen Welt, die Art und Weise, wie wir alle Herausforderungen meistern werden, wird nur durch die Wissenschaft möglich sein. Unser gesamtes Wohlergehen und alle Technologien, die wir täglich nutzen, beruhen auf den Grundlagen der Wissenschaft.