Bei unserem Treffen kurz vor ihrem 50. Geburtstag war ich mir nicht sicher, ob ich gratulieren sollte. Manche Menschen haben ein Problem mit der Zahl 50. Corinna aber sagte: „Ich freu mich so!“ Damit sei man alles los, was einem so das Leben verstellt. Ziele, die unbedingt zu erreichen sind oder Ideale, die man denkt, erfüllen zu müssen, können großzügig vom Tisch gewischt werden: „Jetzt kann ich mich zurücklehnen und schauen, wer ich denn geworden bin. Ich muss nichts mehr. Und ich habe noch viel vor, das mich interessiert. Besser geht es nicht. Ein perfektes Alter.“ So kann man es auch sehen. Wie immer ist Corinna Milborn dafür gut, einem ordentlich in die Vorurteile zu pfuschen.
Ich freue mich, 50 zu sein. Ich muss nichts mehr. Und ich habe noch viel vor. Besser geht es nicht. Ein perfektes Alter.
Reise an die italienische Riviera. Im letzten Sommer kam von ihr eine Einladung, gemeinsam mit Freundinnen und ihrer kleinen Tochter an die italienische Riviera zu fahren, in ein Dörfchen nahe der französischen Grenze. Eine wunderschöne Wohnung war gemietet, sie kenne sich dort ganz gut aus. Corinna Milborn war als Kind teilweise vor Ort aufgewachsen, ihre Großmutter väterlicherseits lebte früher dort, habe sich den Traum von einem Leben am Meer erfüllt. Jedes Jahr hat sie die Oma aus Innsbruck für einige Monate zu sich geholt, damit sich das Kind ein „anderes Leben“ anschauen konnte und nebenbei auch noch perfektes Italienisch und Französisch erlernte.
Duft der großen Welt. Ich packte also meine Bücher und die Hängematte zusammen. Lesen und schlafen, fantastisch. Wir bezogen eine großzügige Wohnung in einem alten Steinhäuschen, der Blick über die Küste war atemberaubend. In der Nähe war ein großer Park, in dem ein reicher Mann einst ganz humboldtmäßig Pflanzen aus aller Welt zusammengetragen hat. So duftete es nach allem Möglichen und nach Meer und vor allem nach der großen Welt.
Am ersten Urlaubsmorgen stellte ich nach dem Aufwachen fest, dass bereits geturnt wurde. Schwimmen war man auch schon, der Weg hinunter über die steilen Felsen zum Meer und wieder zurück war nicht ohne, so hörte ich. Jemand war in den Ort geschickt worden, auch eine halbe Stunde über steile Fußwege, um einzukaufen. Nein, ein Auto wurde nicht gemietet, wozu, man sei auf Urlaub und es war teuer. Später sind wir dann sprichwörtlich nach Frankreich gegangen, um essen zu gehen. Ich reklamierte vorsichtig ein Taxi, bitte, diesmal. Ach nein, das sei ein so wunderbarer Weg entlang der Küste. „Man erholt sich ja auch, wenn man das Schöne sucht“, meinte Corinna freundlich. Sie sollte recht behalten. Ich verabschiedete mich von meiner Hängematte und ich ließ mich dann auf diese Art Urlaub ein. „Man sollte der Faulheit keine allzu große Bedeutung beimessen“, sagte Corinna.
Wir machten kilometerlange Wanderungen entlang der Küste. Sprangen kurz von den Felsen ins Meer. Beobachteten Corinna, wie sie in fließendem Italienisch – und mit der entsprechenden Handgestik – mit strengen Aufpasserinnen diskutierte, warum es ein Grundrecht sei, sehr wohl über diesen einen Privatstrand laufen zu dürfen. Oder für uns gute Preise am französischen Markt verhandelte.
In einer Vollmondnacht führte sie uns auf einen der letzten Ausläufer der Alpen. Dort, ganz oben, war ein Restaurant, in dem sie auch als Kind oft war. Sie zeigte uns den Blick über die Buchten, in Richtung Monaco, gleich nach Nizza. Es war der 14. Juli, der französische Nationalfeiertag. Hinter der Grenze zu Frankreich waren überall Feuerwerke zu sehen. Die Yachten der Superreichen waren festlich beleuchtet. Von der Ferne waberte Musik zu uns herüber. Es war traumhaft.
Notunterkünfte für Flüchtlinge. Dann zeigte Corinna auf einzelne kleine Lichtflecken in den Bergen. Das seien Notunterkünfte für die flüchtenden Menschen, meinte sie. Täglich kämen welche an der italienischen Küste an, ganz in der Nähe von unserem Dorf. Der Heimweg hinunter war unvergesslich, die Serpentinenstraße entlang, durch Pinienwälder mit diesem riesigen Mond über dem Meer. Dazu die ernsten Gespräche über die Arbeit für die Geflüchteten, die Rettungs-NGOs, die immer das Meer absuchen nach Booten, in die Menschen gepfercht wurden. Das war sehr eindrücklich für mich. Unser so romantischer Mond hatte auch den Weg für die Geflüchteten zu beleuchten.
Milborns Maxime: In keinem Moment unachtsam sein. Realistisch bleiben. Aber nie das gute Leben verpassen.
Es war eine Situation, die sehr der Persönlichkeit von Corinna Milborn entsprach. In keinem Moment unachtsam sein. Realistisch bleiben. Aber nie das gute Leben verpassen. Im Nachhinein muss ich zugeben, es war der erholsamste Urlaub für mich, seit ich Kinder hatte. Die Fülle von Eindrücken und die – zugegeben wirklich ungewohnt – viele sportliche Betätigung taten mir gut.
Die Großmutter. Ihr Leben so intensiv leben zu wollen, war vielleicht ein Erbe genau dieser Großmutter väterlicherseits. Eine prägende Frau für Corinna. Sie war ebenfalls geflüchtet, im Krieg, vor den Russen, von der mährischen Grenze. Ihre Erfahrungen als alleinerziehende Mutter und erfolgreiche selbstständige Geschäftsfrau haben sie politisiert. So war sie Abonnentin der deutschen Wochenzeitung „Der Spiegel“ von der ersten Ausgabe an und baute zeit ihres Lebens ein Archiv damit auf. Der kleinen Corinna zeigte sie die interessanten Artikel, um auch mit ihr darüber zu diskutieren. Noch als Neunzigjährige, als es mit dem Lesen nicht mehr so gut ging, wurde ein Student engagiert, der ihr vorzulesen hatte. Politik hat immer höchstpersönlich mit einem selbst zu tun. Das Bewusstsein darüber hat sie ihrer Enkeltochter weitergegeben.
Auf Demos. Die fand man daher schon in der Schulzeit in Tirol auf Demos, kurz vor 1989, als in Rumänien das Terrorregime von Nicolae Ceaușescu zu bröckeln begann. Es ging darum zu erkämpfen, dass rumänische Flüchtlinge in Tirol aufgenommen werden sollten. Doch die Plakate in der Schule wurden wieder abgenommen. „Ich wurde zur Direktorenkonferenz zitiert. Man sagte mir, dass Politik in der Schule nichts zu suchen hatte. Was für ein Unsinn“, erinnert sich Milborn zurück. Überhaupt war ihr Schule unangenehm, als unendlich wissbegieriges, neugieriges Kind mit Ameisen in der Hose.
Fotografisches Gedächtnis. Heute würde man vermutlich Hochbegabung, ADHS und einen ausgeprägten Willen zur Bildung und dem Verfechten der eigenen Meinung diagnostizieren. Sie tat sich leicht mit dem Lernen, vom Lehrplan her war sie durch ihre Italiensemester den Tiroler Kindern immer ein wenig voraus. Und sie hatte ein echtes fotografisches Gedächtnis: „Ich konnte mir die Seiten einprägen und in Testsituationen die Zeilen in Gedanken einfach ablesen. Das war später beim Geschichtestudium praktisch.“
Irgendwann ist sie in manchen Fächern gar nicht mehr hingegangen und hat einfach Semesterprüfungen über den Stoff gemacht, meist mit einem Notendurchschnitt von 1,0. Daneben hat sie eigeninitiativ Spanischkurse belegt, das musste auch noch erlernt werden, so fand sie. Sonst wäre ihr langweilig geworden.
Nach der Matura 1991 überlegte Corinna, Betriebswirtschaft zu studieren und auf eine Eliteuniversität in Frankreich zu gehen. Sie wurde als eine von ganz wenigen Österreicherinnen dazu eingeladen, als Stipendiatin einen Vorbereitungskurs am Lycée Français in Wien zu besuchen. „Nach 5 Wochen war ich geheilt“, erzählt sie. „Ich saß da mit den ganzen Söhnen der CEOs von Peugeot oder L’Oréal. Die haben von der fremden Stadt überhaupt nichts mitbekommen, weil sie Tag und Nacht lernten. Immerhin wurde ja nach einem Jahr extrem ausgesiebt, da hieß es stucken, stucken, stucken. Und zweitens ging es nur um Karriere, Hierarchien und Konkurrenz. Um Konzernführerschaft als Lebensziel.“ Später wunderte sie sich nicht darüber, dass ihre Mitstudierenden schnell alle möglichen Stresskrankheiten bekamen.
Wie Kapitalismus funktioniert. Diese paar Wochen aber waren prägend für Corinna Milborn, denn es war ein so einschneidender Blick darauf, wie Kapitalismus funktioniert: „Da gab es einen Philosophielehrer, der ging so weit zu sagen, es gäbe keine Moral. Kein Gut, kein Böse. Der meinte, alles ist grau. Nur Geld zählt. Das war uninteressant für mich. Der Kapitalismus ist mir so richtig falsch vorgekommen.“
Also brach sie das Studium ab und beschloss, das Gegenteil zu machen. Zu studieren, was sie wirklich interessierte, und sich später zu überlegen, was sie damit machte. Sie war von gesellschaftsverändernden Bewegungen fasziniert und inskribierte Geschichte, internationale Politik und Spanisch. Damit baute sie sich einen Lateinamerikaschwerpunkt auf. Mit 20 ging sie dann nach Spanien, um zu studieren.
Guatemala. 1993 schließlich war ein Meilenstein in Corinna Milborns Leben. In Wien fand eine Menschenrechtskonferenz statt. Evo Morales war dort, der spätere erste indigene Präsident von Bolivien. Er schlief einfach am Boden in der WG einer Freundin Milborns. Auf der Konferenz lernte sie auch Leute der Exilregierung Guatemalas kennen. Sie begann, sich zu engagieren. Es war die Zeit der Friedensverhandlungen im guatemaltekischen Bürgerkrieg, der seit den 1970er-Jahren andauerte. Wie sich später herausstellte, unterstützten die Amerikaner die rechtsgerichteten Militärdiktaturen Guatemalas aus wirtschaftlichem Interesse. Die riesigen Food Companies der USA konnten so verhindern, dass sich die Produktionsbedingungen in Guatemala verteuerten durch arbeits- und menschenrechtlich bessere Bedingungen, die sich in einer Demokratie wohl etabliert hätten.
Diktator Montts Völkermord. Die Militärs und Paramilitärs massakrierten die ansässigen Mayas planmäßig, vor allem in der Zeit Anfang der 1980er-Jahre unter Diktator Rios Montt. Ganze Landstriche wurden geleert. Die Ureinwohner wurden beschuldigt, die Guerillabewegung zu unterstützen, die Opposition gegen die Militärs. Dörfer wurden zerstört, Tausende Bewohner ermordet, vergewaltigt und auf grausamste Weise verstümmelt. Es herrschte eine unheimliche Brutalität im Land. In der Zeit der großen Massaker wurde schwangeren Frauen die Babys aus den Bäuchen geschnitten und die Föten zerstückelt.
Ich ging mit 22 Jahren ins Kriegsgebiet nach Guatemala. Ich hatte keine Angst. Mir war wichtig, dass es einen Sinn hat, was ich tue.
„International gab es kaum Berichterstattung dazu. Der Konflikt dauerte einfach schon ewig. Dennoch gab es 1995 Friedensverhandlungen. Weil die UNO keine Beobachter in Kriegsgebiete schicken konnte, hat sich die Exilregierung Guatemalas von Mexiko aus Beobachtung organisiert, auch als Schutzschild“, erinnert sich Milborn. „Wenn Menschen aus dem Ausland in den Dörfern saßen und darüber nach außen kommunizierten, gab es weniger militärische Übergriffe. Die Menschen, vor allem aus dem spanischen Baskenland, haben quasi als menschliche Schutzschilde dort mit den Großfamilien gelebt und mitgeschrieben, wenn irgendein Übergriff war. Die Dörfer sind nicht mehr bombardiert worden. Also ging ich auch nach Guatemala. Mit 22 Jahren.“ „Hattest du keine Angst?“ „Nein. Ich bin nicht ängstlich. Na ja, wenn ich jetzt als Mutter daran denke, dass ich mit 22 in ein Kriegsgebiet gefahren bin und monatelang am Stück von der Außenwelt abgeschnitten war, tun mir meine Eltern leid. Aber mir war so wichtig, dass es einen Sinn hat, was ich tue. Als Medizinerin hätte man während des Studiums gewusst, dass man einmal Menschenleben retten wird können. Aber mit Geschichte und Politikwissenschaft muss man sich das Feld suchen, in dem es einen Unterschied macht, ob man dort ist oder nicht.“
Wahlbeobachterin. Milborn war beeindruckt vom Zusammenhalt der Oppositionellen. Sie ging zunächst nach Guatemala City als Wahlbeobachterin, danach in die Berge im Norden Guatemalas. Zwei Tage Fußmarsch waren es von der militärischen Grenze in die Gebiete, die Schutz brauchten. Drei Bergzüge mit etwa vierzig Dörfern. Sie kam in einem Ort mit Flüchtlingen an, die nach Friedensverhandlungen aus dem Exil in Mexiko zurückkehren durften. Dort fanden ganz schreckliche Massaker in früheren Jahren statt. Dreiviertel der Bevölkerung des Dorfes waren massakriert worden. Es waren nun die überlebenden Mayas auf der einen Seite des Baches, denen man blaue Planen und ein bisschen Mais und Bohnen mitgegeben hat. Sie bauten sich damit primitive Hütten. In dem Mais waren so viele Käfer drin, dass man ihn vorher in Wasser werfen musste, damit die Käfer abgeschöpft werden konnten: „Ich habe Skorbut bekommen von der einseitigen Ernährung. Sie hatten einen starken Willen, trotz des Traumas. Sie wollten ihr Heimatdorf wieder aufbauen. Aber sie mussten es mit denen machen, die in den letzten 12 Jahren dort gelebt hatten.“ Denn auf der anderen Seite des Dorfes waren die paramilitärischen Truppen, jene Leute, die die Massaker angerichtet und die Häuser der von ihnen Ermordeten oder Vertriebenen bewohnt haben. Die beiden Gruppen lebten im gleichen Dorf: „Ich war dabei, als später die Gräber geöffnet wurden und Angehörige nach Hinweisen suchten: Kleidungsstücke, markante Gebisse, irgendetwas, was ihnen Sicherheit geben konnte, was aus ihren Leuten, auch aus ihren Kindern geworden ist.“
Als Beobachterin im Kriegsgebiet Guatemalas: Wenn Milborn Granaten hörte, schrieb sie es auf.
Granaten. Guerillakämpfe gab es immer noch in der Gegend. Wenn Milborn Granaten hörte, schrieb sie es auf. Wenn Militär kam, floh man in den Wald. Einmal wurde von einem Angriff berichtet: „Da bin ich hingelaufen und ich habe tote Kinder gesehen“, erzählt sie. „Seitdem macht für mich Gewalt in Filmen keinen Sinn mehr. Das ist kein Amüsement für mich. Ich sehe mir keine Krimis an, keine schaurigen Filme. Ich lese auch keine Krimis. Höchstens Stieg Larssons Reihe ‚Millennium‘, da ging es aber um Vergehen, die realistisch sind. Das, was ich in Guatemala erlebt habe, die Kriegsrealität, dieses Grauen ist unbeschreiblich. Und es ist real. Daran denke ich auch in diesen Tagen oft, wenn wir über die Ukraine sprechen und diesen grausamen Krieg, den Putin da verbricht.“
Corinna Milborn machte Interviews mit Betroffenen, um zu erfassen, was wann wo genau passiert ist. Dazwischen begleitete sie forensische Teams. Es wurde katalogisiert, fotografiert, gezählt, Verletzungen an den gefundenen Knochen registriert. Mit den Angehörigen gab es unendlich traurige Szenen. Durch die Sammlung dieser Berichte durch die internationalen Beobachter wurden später die Gerichtsverhandlungen gestaltet. Sogar der grausame Diktator Rios Montt konnte 2013 zu 80 Jahren Haft verurteilt werden. Das war historisch. Nie zuvor war ein früherer Staatschef von einem Gericht seines eigenen Landes wegen Völkermordes verurteilt worden.
Persönlich war dieser Teil ihres Lebens für Corinna Milborn eine eindrückliche Erfahrung, zu sehen, wie es war, wenn es einfach nichts gibt: „Später, zurück in Spanien, konnte ich es fast nicht verkraften, als ich in den Supermärkten 23 verschiedene Sorten von Orangensaft sah. So ein Überfluss!“ Und aus wissenschaftlicher Sicht interessierte sie die Gesellschaft der Mayas und wie sie sich organisierten: „Sie haben ein komplett eigenes Gebiet aufgebaut, losgekoppelt vom Staat. Mit eigener Verwaltung und einem Leben nach den alten Mayaregeln. Es wurde kaum Spanisch gesprochen, sie kommunizierten nur in ihren Mayasprachen.“
Die Kultur der Mayas. Als ehemalige Wirtschaftsstudentin interessierte Milborn auch die Beobachtung der Subsistenzwirtschaft, bei der alle für den eigenen Verbrauch benötigten Güter selbst produziert werden: „Die Mayas produzierten für sich autark. Niemand nahm sich mehr, als er brauchte – ein so ganz anderes Denken, als man es bei uns gewöhnt ist.“ Die Mayas lebten nach der Kosmovision – auf Spanisch cosmovisión maya –, dem Verständnis für den Kosmos, der Welt als übergeordnetem Ganzen. Sie haben kein lineares Geschichtsbild so wie wir. Bei den Mayas kommt alles immer zurück und man muss sehen, dass es im Gleichgewicht bleibt: „Wenn ein Baum gefällt wurde, weil man den Platz für Maisanbau benötigte, dann wurde mit einem Priester entschieden, ob man das auch wirklich braucht.“ Corinna stellte fest, das System funktionierte nicht mehr, sobald eine Straße da war. Dann hatte plötzlich einer einen Lastwagen und es ging los mit dem verzerrten Machtgefüge.
Das Leben der anderen. Ein weiterer Unterschied zum Leben, wie wir es kennen, war die Bildung der Kinder. Es gab keinen Strom. Manchmal gab es einfach Solarpanele mit einer Glühbirne. Damit waren Abendkurse möglich und so Lehrerweiterbildungen. Die Mayas begannen, eigene Schulen zu organisieren. Als die internationalen Beobachter ihnen stolz Schulbücher überbrachten, wurden diese jedoch abgelehnt. Da stand nichts drin, was man hätte brauchen können, sagten sie.
Also setzte sich Corinna gemeinsam mit einem Übersetzer zu den Alten der Dörfer und schrieb mit ihnen die Erzählungen von früher und Maya-Legenden auf. Sie tippte mit mehreren Durchschlägen mündlich überlieferte, fünfhundert Jahre alte Traditionen und magische Legenden ab, auch Geschichten darüber, wie es war, als die Spanier kamen. So konnte sie auf Spanisch Bücher für den Unterricht herstellen. Später hat sie das verglichen mit wissenschaftlich erfassten Berichten aus dieser Zeit und die Erzählungen waren erstaunlich akkurat.
Sieben Monate war Corinna Milborn in Guatemala. Langsam wurde es gefährlich. Die Geheimpolizei in Guatemala war brutal. Es gab Verfolgungsjagden. Unzählige guatemaltekische Widerstandskämpfer sind „verschwunden“ und nie mehr aufgetaucht. Ausländer, die wie Milborn die Geschehnisse in dem Land beobachten wollten, wurden bedrängt: „Eine deutsche Kollegin ist nur telefonieren gegangen, man hat sie entführt und irgendwo am Ende der Stadt ausgesetzt. Es war ein Glück, dass sie lebend zurückgefunden hat.“
Geheimpolizei. „Diese Mitglieder der Geheimpolizei haben sich da was von den Hollywoodagenten abgeschaut, liefen mit Ray-Ban-Sonnenbrillen herum und drohten mit Anrufen: ‚Wir haben unsere Augen auf dich gerichtet.‘“ Irgendwann wurde Milborn von einem dieser Ray-Ban-Helden angesprochen, was sie hier in Guatemala mache: „Einen Spanischkurs.“ Daraufhin öffnete er das Sakko, eine Pistole war zu sehen und ein Säckchen mit weißem Pulver: „Wenn wir das bei Ihnen finden, dann kommen Sie in den nächsten zwanzig Jahren nicht mehr heraus hier. Vielleicht wollen Sie das Land verlassen.“ Corinna Milborn reiste ab. Man hätte nur behaupten müssen, dass man Drogen bei ihr gefunden hat, und sie wäre für Jahre im Gefängnis gelandet.
Neues Leben als Journalistin. Zurück in Österreich begann sie mit der Aufarbeitung des Erlebten. Sie schrieb ihre Diplomarbeit über die Massaker in Guatemala, über die Widerstandsgemeinden. Beim Transkribieren holte sie vieles ein, was sie erlebt hatte. Sie konnte noch lange das Wort „Guerilla“ nicht laut aussprechen, weil es in Guatemala doch so geheim war. Die Bilder der Toten kamen zurück ins Bewusstsein und die Tränen der Angehörigen. Das war schwer auszuhalten: „Und trotzdem, es war ein gutes Gefühl, dass meine Arbeit wichtig war. Diese Leute mussten vor Gericht kommen. Damals habe ich erkannt, wie wertvoll Information ist. Und wie dringlich es ist, Information nachzugehen und dranzubleiben, koste es, was es wolle. Es macht einen großen Unterschied für eine Gesellschaft, wenn sie informiert ist.“ Sie beschäftigte sich eingehend damit, was Propaganda bedeuten kann. Und damit, wie man Informationen in einem Propagandaumfeld herausfindet. Es wurde eine Dissertation daraus: „Die habe ich aber nicht abgegeben, da hätte ich noch ein kurzes Studium dazu machen müssen. Das war mir nicht wichtig genug. Ich hatte bereits anderes vor.“
Es war das Jahr 1998, Corinna Milborn wollte ihr Interesse an Klimaschutz beruflich verwerten und begann beim World Wildlife Fund (WWF) als Pressesprecherin zu arbeiten: „Ich war da auch Expertin für Globalisierungsfragen. Es ging um Umweltstandards und die Verträge der EU-Osterweiterung.“ Sie verhandelte die Agenden mit und brachte ihre Expertise in die Verträge der Welthandelsorganisation, des internationalen Währungsfonds und der Weltbank mit ein: „Ich wusste sehr gut, was passieren kann, wenn Konzerne machen können, was sie wollen.“
Tochter Luca. Der deutsche Ökologe und Filmemacher Ulrich Eichelmann war damals ihr Lebensgefährte. Bald wurde sie auch Expertin für Windelfragen: Mit 26 Jahren wurde Corinna Milborn Mutter ihrer Tochter Luca.
Später stellte sie fest, dass das Arbeiten für eine Organisation auch eines bedeutete: „Man muss sich ihr Mascherl umhängen.“ Milborn wollte aber sagen, was ihre Meinung war. Noch lange beobachtete sie die Entwicklungen in Guatemala, das Land war voller traumatisierter Menschen und vieler Waffen. Es war alles brutalisiert und noch Jahre später kam es zu Lynchjustiz unter der Bevölkerung. Dies alles publizierte sie in dem Buch „Guatemala: Ein Land auf der Suche nach Frieden. Politik – Geschichte – Kultur – Begegnungen“.
Quereinsteigerin mit 30. Corinna Milborn beschloss, eine Journalismusausbildung in Salzburg zu absolvieren und machte sich 2003 selbstständig – als Quereinsteigerin mit 30 Jahren. Das war nun ihre Berufung. Sie glaubte an die Kraft von Information, ans selber Nachdenken, an Meinung. Die wollte sie unabhängig kundtun, ohne sich mit einer Organisation abstimmen zu müssen.
Zunächst publizierte sie in der Menschenrechtszeitschrift „Liga“. Wann immer sie auf Themen gestoßen ist, die ein Gesellschaftsgefüge negativ beeinflussen, hat sie in die Tiefe recherchiert – auch wenn es persönlich manchmal kaum auszuhalten war. Später schrieb sie über Wirtschaftspolitik in der Wochenzeitung „Format“, über Finanzmärkte, EU-Politik und die EU-Osterweiterung.
Die Erziehungsarbeit ihrer Tochter teilte sie sich mit deren Vater: „Was das betrifft, bin ich da sehr gut im Hinausgehen, im Unternehmungen-Machen. Mit Bauklötzen oder Puppen zu spielen war nie so meins“, sollte sie später in einem Interview sagen. Diese Aufteilung hat es ihr ermöglicht, sinnvoll weiterzuarbeiten.
Waris Dirie. Sie lernte Waris Dirie kennen, das weltberühmte Supermodel aus dem ostafrikanischen Somalia, die sich aufgrund ihrer eigenen furchtbaren Geschichte weltweit gegen Genitalverstümmelung von Mädchen einsetzt. Corinna reiste in verschiedene Länder, um in den Communities zu recherchieren, wie weit auch dort Genitalverstümmelung praktiziert wird. Und fand heraus, wie unerheblich es war, ob sie verboten war oder nicht. Etwa 500.000 Mädchen und Frauen in Europa sind davon betroffen. Auch in Österreich. Mit Waris Dirie gemeinsam veröffentlichte sie 2005 ein Buch darüber, „Schmerzenskinder“. Die Themen, die Corinna Milborn beschäftigten, gingen Hand in Hand mit ihrer journalistischen Arbeit. So recherchierte sie ausgiebig über Flüchtlingsbewegungen und darüber, dass die Frauen meistens übrig blieben, ihrem Schicksal überlassen. 2006 veröffentlichte sie ihr preisgekröntes Buch „Gestürmte Festung Europa“, 2008 gemeinsam mit Mary Kreutzer „Ware Frau. Auf den Spuren moderner Sklaverei von Afrika nach Europa“.
Erster TV-Job im ORF. 2007 kam ein weiteres Standbein dazu und Corinna Milborn wurde in das Team der Moderatorinnen der Diskussionssendung „Club 2“ im ORF geholt: „Da arbeitete ich aber als Satellit und war einigermaßen unbehelligt von Interventionen.“ Trotzdem bekam sie einiges an Einmischungen zu spüren, es war ein öffentlich-rechtlicher Sender. Da war es schon so, dass der Generaldirektor sehr wohl die Liste an Gästen zu kommentieren hatte.
Tod des Bruders. Ihre Art zu arbeiten wird sie nie ermüden: „Ich kann bei manchen Themen einen Hyperfokus entwickeln. Ich muss so lange dranbleiben, bis ich das Gefühl habe, ich weiß genug.“ Diese Eigenschaft hat ihr manchmal wohl auch geholfen, private Schicksalsschläge zu verarbeiten. Krankheiten oder Todesfälle. Im Jahr 2009 kam ihr Bruder Clemens Milborn in Thailand bei einem Autounfall ums Leben. Er war erst 32 Jahre alt. Er war ein Weltenbummler und Corinna hatte das Gefühl, in seinen letzten Lebensjahren zu wenig von ihm mitbekommen zu haben. Irgendwann startete sie einen Aufruf auf Facebook, der Hunderte Male geteilt wurde. Corinna und ihre Familie wollten jedes noch so kleine Detail über Clemens wissen, wer immer ihn getroffen hatte auf dem Globus, sie sammelten Geschichten und Begegnungen, um dann noch einiges von ihm erfahren zu können. Das erzeugte Gewissheit über manche Fragen, die noch offen waren.
Infos für die Masse. Schließlich beschloss sie, es wäre an der Zeit, Informationen für die Masse aufzubereiten. Sie heuerte 2010 in der Chefredaktion beim Wochenmagazin „News“ an: „Mit den Recherchen des genialen und legendären, leider viel zu früh verstorbenen Investigativ-Journalisten Kurt Kuch und der hohen Reichweite hatte das, was wir veröffentlicht haben, einen ganz anderen Impact. Das war schon sehr zufriedenstellend.“
Natascha Kampusch-Biografie. Im gleichen Jahr veröffentlichte sie gemeinsam mit Natascha Kampusch deren Biografie „3096 Tage“. Und sie arbeitete auch an Filmprojekten mit, so zum Beispiel an Erwin Wagenhofers Kinodokumentation „Let‘s Make Money“ oder später mit Hubert Canaval „Macht Energie“.
Daheim in der Lobau. Privat erfüllte sie sich ihren Traum von einem Leben am Wasser. Sie baute gemeinsam mit Freunden und ihrem Lebensgefährten ein Passivhaus in der Nähe der Lobau in Wien, nach den Plänen ihres Bruders Christoph, der Architekt ist. Ein paar Schritte nur und sie kann schwimmen gehen, einmal über die Donau fahren, in einer anderen, friedlichen Welt sein.
Reisen war Corinna Milborn schon immer wichtig. Ihre Kontakte besuchen in aller Welt. Aufs „Burning Man“-Festival in die Wüste von Nevada fahren, mit Freundinnen und Freunden, mit ihrer großen Tochter und tatsächlich auch mit ihrem Vater, dem sich so in späten Jahren noch einmal eine ganz neue Welt erschließen konnte. Auch ein Grund für Corinna Milborn, nie damit aufzuhören, Leute für etwas begeistern zu wollen.
Wechsel zu Puls 4. 2012 engagierte sie Puls 4-Chef Markus Breitenecker als Moderatorin der Diskussionssendung „Pro und Contra“. Bevor noch ihr journalistisches Betätigungsfeld und ihre Rolle im Sender genau definiert werden konnten, wurde sie schwanger mit ihrer zweiten Tochter Lilo: „Da passierte etwas Ungeheuerliches. Markus ernannte mich zur Infochefin. Das war wohl österreichweit das erste Mal, dass eine schwangere Frau in eine hohe Position befördert wurde.“
Wieder konnte sie sich die Erziehungsarbeit mit dem Vater ihres Kindes teilen und sich in den Job stürzen. Später kam noch die Sendung „Milborn“ dazu, in der sie wöchentlich hochkarätige Gäste einlädt, die gerade das öffentliche Meinungsfeld zu politischen und gesellschaftspolitisch relevanten Themen bestimmen. Sie hat an die 160 Leute im Team, die sich der Recherche und der Aufbereitung der wichtigsten Themen widmen: „Wir haben klare Richtlinien, womit wir uns beschäftigen müssen. Menschenrechte sind ganz oben. Im Endeffekt halten wir uns an die Nachhaltigkeitsziele der UNO, Geschlechtergleichstellung, Antikorruption, Armut, Klima, Energie, gutes Wirtschaften – und eben Menschenrechte.“
Milborn kann schwer sagen, was am eindrücklichsten war, es sei so viel passiert in diesen Jahren: Die Flüchtlingsproblematiken, Trump, Brexit, die weltweiten Konflikte, die schwarz-blaue Regierung in Österreich mit dem Phänomen Kurz, die Coronapandemie und nun der Krieg in der Ukraine. „Absurd war auch der Präsidentschaftswahlkampf 2016 zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer“, so Milborn. Der zog sich in die Länge mit der Stichwahl und der Wahlwiederholung wegen ungenügendem Kleber der Briefwahlkuverts.
Shitstorm. „Einmal hatte ich ein Interview mit Hofer. Ich blieb die ganze Zeit auf die für mich einzige wirklich wichtige Frage fokussiert: Wie sein Verhältnis zum Nationalsozialismus war. Er wurde ziemlich wütend.“ Corinna Milborn hatte nicht damit gerechnet, was danach folgen sollte. Innerhalb der nächsten 24 Stunden waren 24.000 Hasspostings auf der Puls 4-Facebook-Seite zu finden. Das Interview und die Reaktion der rechten Kampagnenmaschinerie hat Wellen geschlagen. Dies wurde sogar in der „New York Times“ zum Thema und die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete darüber: „Das war schon massiv, ich hätte es nicht gedacht, aber tatsächlich war diese Wucht an Reaktionen ein, zwei Tage persönlich beeinträchtigend für mich.“
Ein neuer Sender. Im Mai 2019 tauchte das Ibiza-Video auf. Der damalige FPÖ-Chef und spätere Vizekanzler Heinz-Christian Strache war in eine Falle getappt und hat einer vermeintlichen Oligarchen-Nichte für Geld ganz ungeheuerliche Dinge vom österreichischen Staat versprochen: „Damals sind wir einfach nicht mehr aus dem Puls 4-Nachrichtenstudio hinausgegangen und haben ununterbrochen gesendet. Irgendwann war unsere Programmchefin der Meinung, man sollte einmal schon wieder einen Film spielen. Also haben wir einen Pop-up-Kanal gegründet im Internet: Puls 24, um die Diskussionen und Nachrichtenformate weiterlaufen lassen zu können. Im September 2019 waren wir damit im TV on air.“ Dieses Projekt entwickelte sich zufriedenstellend, als Nachrichtensender haben sie einen Marktanteil von 1 %, über eine Million User auf puls24.at. „Und ab Jänner 2023 gibt es jeden Tag eigene Dokusendungen. Man kann nicht genug Information bekommen, ich sag’s ja.“ Sie selbst arbeitet nur mehr auf Herausgeberebene, drei Chefredakteure teilen sich die Tages- und Nachtdienste.
Ausgleich. Der Ausgleich ist die Familie, das Skitourengehen: „Wir haben festgestellt, dass die Tiroler Gene dann doch so stark waren und wir wollten, dass unsere kleine Tochter Skifahren lernt.“ Ihr kleiner Hund begleitet sie täglich auf die Spaziergänge durch die Lobau.
Zweifel? Ob sie je gezweifelt habe an ihrer Arbeit? „Ja, vielleicht in der Coronazeit. Da haben wir festgestellt, dass die Propagandaseiten mit den Falschmeldungen perfekt nachmachen, was ein seriöser Nachrichtensender tut. Wie sollen es dann die Leute merken, was eine echte Information ist? Was ist für sie richtig recherchiert, wie sollen die Leute das unterscheiden? Das waren nicht viele, aber sie waren laut.“
Bis die Chats um die Truppe von Ex-Bundeskanzler Kurz auftauchten. Dieses Aufzeigen der Ungeheuerlichkeiten mit Beweisen – und die Reaktion der Menschen drauf – hat sie wieder sicher sein lassen: Es zahlt sich aus, nach der Wahrheit zu suchen und einen Aufwand zu betreiben, um sie der Öffentlichkeit zu präsentieren: „Es hat etwas mit den Köpfen der Menschen gemacht, als sie erkannt haben, wie da gearbeitet wurde. Und dass es nicht in Ordnung ist, wenn sich die Politik mit Medienmachern zu eng verbindet.“
So, und nun? Corinna Milborn ist 50, zweifache Mutter, eine gefeierte Journalistin, Preisträgerin von Ehrungen wie dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch, dem Concordia-Preis für Menschenrechte, dem European Journalist Award for Excellence in Journalism, dem Robert-Hochner-Preis, um nur einige zu nennen. Wie geht es nun weiter? „Wenn man aufdeckt, wie es ist, dann ändert sich das Bewusstsein darüber bei den Menschen. Oder das Aussprechen von Unrecht bei Geschlechterthemen – das macht einen Unterschied. Das wird nie falsch sein. Ansonsten sollten wir wieder ans Meer fahren, von Felsen springen und nach Frankreich essen gehen …“