Es gibt Geschichten, die so unglaublich klingen, dass sie nur vom wahren Leben geschrieben werden können. Die folgende ist so eine. Alles begann damit, dass ein Berliner Weinhändler namens Frank Krüger einen Geheimtipp bekam. Ein italienischer Sommelier empfahl ihm, in die portugiesische Kleinstadt Colares zu fahren und dort nach der sagenumwobenen roten Rebsorte Ramisco zu suchen. Unter Kennern sei das ein wahrer Schatz, eine Art Pinot Noir mit geringerem Alkohol, viel Säure, viel Tannin und im Charakter „wilder als der heftigste Pommard”. Diese Traube wird direkt am Atlantik nordwestlich von Lissabon angebaut, salzig und kühl durch die Meerbrise. Absolut beste Voraussetzungen für einen Jahrhundertwein.
Von der Neugierde gepackt, machte sich Frank Krüger wenig später auf den Weg in das traumhaft gelegene Siebentausend-Einwohner-Städtchen und begann mit seiner Recherche. Während er einige edle Tropfen verkostete, erfuhr er von einem außergewöhnlichen Winzer aus der Stadt: Baron von Bruemmer, einhundertunddrei Jahre alt und deutschstämmig. Ende der 1960er-Jahre war er nach einer hoffnungslosen Krebsdiagnose gemeinsam mit seiner Frau nach Colares gekommen, in der Hoffnung, in dieser wundervollen Natur in Ruhe sterben zu dürfen. Es kam aber anders, der Baron starb nicht und gründete im Alter von sechsundneunzig Jahren sein eigenes Weingut.
Was für eine sonderbare Geschichte, dachte sich Frank Krüger, freute sich aber selbstverständlich sehr über diesen Hinweis und schaffte es tatsächlich, einen Termin beim Baron zu bekommen. Er wurde auf dessen wunderschönem Weingut hoch über Colares empfangen. Die Lage war sensationell und die Vegetation im Garten rund um die Weinberge wunderschön: Palmen, wilde Rosen, alte Brunnen, eine Kapelle mit Azulejos-Kacheln. Ein kleines Paradies. Doch vom Baron selbst fehlte noch jede Spur. Frank Krüger wurde in den Weinkeller geführt, wo er fantastische Tropfen probieren durfte. Nach der Verkostung und einem ausführlichen Rundgang durch den Weinberg bekam der Baron schließlich seinen Auftritt, den der junge Berliner wohl nie vergessen wird.
„Guten Tag! Herr Krüger aus Berlin, richtig?”, stellte sich der Baron vor. „Ich habe mal in Berlin gewohnt, am Kaiserdamm, zwischen den beiden Weltkriegen. Gestatten, Bodo von Bruemmer, hundertdrei Jahre, Weltkriege und Revolutionen in Russland und Portugal überlebt, Gründer der Herstatt-Bank, Züchter von Araberhengsten, heute Winzer.”
Diese Worte musste Frank Krüger erst einmal sacken lassen. Natürlich stellte er kurz darauf die eine Frage, die wohl jeden Menschen in dieser Situation brennend interessierte: Wie kommt ein Sechsundneunzigjähriger auf die Idee, mit dem Weinmachen zu beginnen? Und so fing der Baron an, aus seinem Leben und von seiner Ankunft in Portugal zu erzählen: „Wissen Sie, ich kam zum Sterben nach Lissabon. Die Ärzte in Zürich diagnostizierten bei mir in den 1960er-Jahren Pankreaskrebs und gaben mir nur noch wenige Wochen zu leben. Ich dachte, ich suche noch schnell einen charmanten Ort für meine Frau, damit sie es schön hat, wenn ich nicht mehr bin. Wir stolperten über eine Anzeige in der Zeitung, kamen am Flughafen in Lissabon an und ich wusste sofort: Hier bin ich zu Hause. Dann kauften wir dieses Grundstück in Colares. Anfangs gab es hier nur ein paar Steine. Wir bauten alles auf. Ich begann, Rosenwasser zu trinken, und eine Woche verging. Ich starb nicht. Eine zweite Woche verging. Ich starb nicht. Monate vergingen. Ich starb nicht. Irgendwann vergaß ich meine Diagnose und begann, mich um andere Dinge zu kümmern. Ich nahm wieder mein altes Bankerleben auf und fing damit an, Araberhengste zu züchten. Ich gewann Rennen in aller Welt, wir lebten wie ein fahrender Zirkus, das war schon lustig. Doch die Katastrophe, der Tod, war immer präsent.”
Dann kam das Jahr 1994. Die Frau des Barons starb und die Pferdepest raffte all seine Hengste hinweg. Alle starben, nur derjenige, der schon längst nicht mehr am Leben sein sollte, lebte einfach weiter.
„Sie dürfen nie aufgeben!”, sagte der Baron. „Die Ärzte haben mich viermal als unheilbar krank diagnostiziert. Ich habe einen Tumor im Herzen, der aussieht wie ein kleiner Atompilz. Er macht mir keine Angst mehr, man muss sich mit seinen Krankheiten anfreunden.”
Frank Krüger war von der enormen Willenskraft des alten Mannes schwer beeindruckt. Im Alter von sechsundneunzig Jahren musste er für eine schwere Operation in ein Krankenhaus nach Zürich gebracht werden. Alle dachten, das war’s jetzt endgültig. Doch als der Baron entgegen aller Erwartungen putzmunter aus der Narkose erwachte, war er entschlossen wie nie zuvor: Er müsse in Colares seinen eigenen Wein anbauen! Trotz Widerstand aus der Familie und dem engsten Freundeskreis ließ sich der alte Mann nicht von seinem Vorhaben, einen Neubeginn zu wagen, abbringen. Er engagierte Berater, baute seinen Keller um, in dem früher die Araberhengste überwintert hatten, und begann, seinen neuen Traum zu leben. Im November 2016 ist der Baron im Alter von einhundertfünf Jahren friedlich auf seinem Anwesen in Portugal verstorben. Er war Colares’ jüngster und ältester Winzer zugleich, pflanzte seinen ersten Weinberg im Alter von sechsundneunzig Jahren und brachte drei Jahre später seine ersten eigenen Weine heraus. Noch fast ein ganzes Jahrzehnt lang erfreute er sich an seiner neuen Leidenschaft. Der Baron hatte ganz sicher ein spannendes, glückliches und erfülltes Leben, doch erst im allerletzten Teil seiner sehr langen Reise wurde er zu einer wahren Legende. Ich finde, seine Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Alter eines Menschen tatsächlich nur die Zahl auf einem Blatt Papier ist.
Man ist nie zu alt, für nichts. Und es ist auch nie zu spät, um sein Leben neu zu beginnen. Egal, wie aussichtslos eine Situation zu sein scheint, an welchem noch so dunklen Ort man sich befindet und wie alt man ist, ein gutes Ende ist zu jeder Zeit möglich. Das Licht ist schon da. Jeder Sonnenstrahl zählt, jede Sekunde ist wichtig, jeder Atemzug ist bedeutend. Der Philosoph Seneca sagte einst: ›Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.‹ Die Magie, nach der wir uns sehnen, verbirgt sich oft in den kleinen Schritten. Am Anfang ist alles schwer, aber es wird mit jedem neuen Versuch etwas leichter. Die Antworten kommen beim Gehen.