Fotos: Bernd Kolb
Geheimnisvolles Java. Hier ist die Wiege einer der ältesten Kulturen der Menschheit.
Als ich 2012 beschloss, mich auf die „Wisdom Jouney“ zu begeben, trieb mich die Sorge, dass sich unsere globale Gesellschaft auf einem fundamentalen Irrweg befindet. Die Hybris des Turbo-Materialismus plündert die Ressourcen des Planeten, und wir ignorieren einfach den Fakt, dass diese endlich sind. Wir sind zu Glücksrittern geworden und jagen einer großen Illusion nach: Wir glauben daran, dass wir mit immer mehr Konsum immer glücklicher und zufriedener werden. Ein fataler Trugschluss, wie sich längst zeigt.
Die Wahrheit ist, dass wir uns in eine kollektive Depression stürzen, wie sämtliche Studien und Zahlen belegen. So sind beispielsweise durchschnittlich 40 Prozent aller Europäer schon einmal psychisch erkrankt und konsultieren mindestens einmal jährlich einen Arzt oder Therapeuten, etwa sechs Prozent nehmen täglich ein Anti-Depressivum (Quelle: OECD). Tendenz stark steigend. Wir laufen in den gesellschaftlichen Burn-out, dabei kommen die großen Krisen erst noch auf uns zu. Namhafte Universitäten sagen in ihren Studien den Kollaps der Menschheit voraus – aber wir sind viel zu „busy“, um uns damit zu beschäftigen. Wir sägen uns also den eigenen Ast ab, auf dem wir sitzen, aber sind mit dem Sägen so beschäftigt, dass wir gar nicht mehr mitkriegen, wohin uns das führt.
Geheimnisvolles Java.
Was uns also fehlt, ist nicht das „Wissen“ – uns fehlt die Weisheit, wie wir mit all dem umgehen, angefangen mit uns selbst. Um diese Weisheit wiederzuentdecken, wollte ich selbst lernen und erfahren, woraus das Geheimnis des wahren Lebensglücks besteht. Mein Weg führte mich nach Asien, dem ältesten Quell aller Weisheitslehren. Auf meinen vorigen Reisen hatte ich viel vom geheimnisvollen Java, der Nachbarinsel von Bali gehört. Der Schädel des sogenannten „Java-Menschen“, der auf Java gefunden wurde, ist 1,5 Millionen Jahre alt. So entwickelte sich auf dieser Insel eine der ältesten und weisesten Kulturen der Welt. Eines der geistigen und spirituellen Zentren ist bis heute das Königreich von Yogyakarta, das den javanischen Schatz der alten Weisheitslehren bewahrt. Es sollte daher meine erste Station meiner „Wisdom Journey“ werden.
Der Bewahrer der Schriften.
Auf gut Glück besuchte ich den riesigen Palast und lernte den Neffen des amtierenden Sultans, R.M. Altianta, kennen, dessen Aufgabe es ist, das Archiv der alten Schriften zu behüten. Er sollte im Laufe der Jahre zu einem meiner engsten Freunde werden. Nach unseren ersten, intensiven Gesprächen ließ er sich zu einer für mich wegweisenden Bemerkung hinreißen: „Wenn du einen Satz beginnst, fängt er oft mit den Worten ‚Ich denke, dass …‘ an. Hier auf Java sagen wir ‚Saya rasa‘, übersetzt: ‚Ich fühle, dass …‘ Ihr im Westen seid im Denken. Wir auf Java sind im Fühlen.“ Das hat mich sehr berührt, und ich erinnerte mich an das Fundament unserer heutigen westlichen Weltsicht: „Cogito ergo sum“, „Ich denke, also bin ich“, wie es Descartes einst formulierte. Aus meiner heutigen Perspektive sind dieser Satz und die damit verbundene Haltung der fatale Irrtum, der unsere westliche Kultur zu einer Gesellschaft von Denkern gemacht hat.
Wir haben die Erde mit unseren Ideen zubetoniert. Wir haben uns die Erde untertan gemacht, sie mit unseren Ideen zubetoniert, haben sie industrialisiert und all unseren Glauben mit der Sehnsucht nach materiellem Reichtum infiziert. Wir haben das Öko-System der Natur durch ein Ego-System des Kapitals ersetzt. Und wir haben uns selbst in dieses Denken mit einbetoniert. Wir sind unseren Sehnsüchten erlegen und zu Sehn-Süchtigen geworden. Weisheit jedoch ist etwas „Inneres“. Unser „wahres Selbst“ besteht nicht aus dem, was sich unser Verstand alles ausdenkt, sondern liegt in dem, was wir nur fühlen können. Saya rasa. Wir haben das Fühlen verlernt. Das ist der Grund, warum uns der Raubbau an unserem Planeten und an uns selbst kalt lässt. Wir haben nur diesen faden Nachgeschmack im Mund, aber wissen nicht, woher er kommt.
Es ist an der Zeit, das Fühlen wiederzuentdecken, das „Mit-Gefühl“, für uns selbst, für andere und für alles um uns herum. Wir können uns die Natur nicht untertan machen, weil wir selbst Teil der Natur sind. So sind wir selbst zu Untertanen unserer Gier mutiert, der sicherste Weg ins Unglücklichsein.
Ich lebe mittlerweile in Yogyakarta und durfte über die Jahre erfahren, welch großen Schatz wir da links liegen lassen. Das „Fühlen“ habe ich gelernt, oder wie wir es im heutigen Sprachgebrauch „Meditation“ nennen. Auf Java gehört die Praxis des Meditierens zum täglichen Leben wie Essen und Trinken. Es ist Teil des Selbstverständnisses, dass das größte Potenzial des Menschen in seinem Inneren ruht. Ja, und da „ruht“ es. Es ist in einem so perfekten Frieden, dass wir es nicht wahrnehmen, weil alles um uns herum zu laut ist. Der Lärm unserer Gedanken, die niemals aufhören wollen, zu uns zu kommen. Es sind in der westlichen Gesellschaft bis zu 60.000 am Tag, hat man erforscht, und 80% der heutigen Gedanken hatten wir schon gestern. Es gibt nur zwei Arten: Wir denken entweder an Vergangenes, das wir nicht ändern können, oder an Zukünftiges, projiziert aus alten subjektiven Erfahrungen und gespickt mit Wünschen und Erwartungen. Aber das, was wir „Leben“ nennen, spielt sich genau dazwischen ab, nämlich nur im Jetzt.
Um den Dämon in unserem Gehirn zu beherrschen – und nicht umgekehrt –, ist die ganze Lebenspraxis danach ausgerichtet, sich das Jetzt wieder und wieder bewusst zu machen. Bewusst zu sein.Das habe ich geübt und gelernt, wirklich bei mir zu sein, um mein ganzes Potenzial in jedem Moment auszuschöpfen, bei allem, was ich tue. Das ist keine Theorie mehr, sondern zu meinem „Da-Sein“ geworden und lässt mich jetzt auch denjenigen fühlen, der mir gegenübersitzt. Ich rede nicht mehr so viel, ich denke nicht mehr so viel, ich erwarte nicht mehr so viel – ich widme all meine Aufmerksamkeit der Situation, in der ich gerade bin. Es war für mich vor Jahren noch schlicht unvorstellbar, was das mit einem macht. Wie tief zufrieden und glücklich man sein kann, wenn man mit sich in diesem inneren Frieden ist. Diese Weisheit ist die Wurzel der javanischen Kultur.
Wäre nicht der Westen mit all seinen Verführungskünsten über diese Gesellschaft hergefallen, wäre Java auch heute noch ein Paradies. Aber nun zerfällt auch diese Kultur, Fernsehen und Internet haben längst mit ihrer Hypnose begonnen. Aber es gibt sie noch, die Javaner, die ihr Leben noch in der alten Tradition ihrer weisen Kultur führen. Man spürt ihn noch, diesen Geist. Er ist noch da, wie er auch noch in jedem von uns da ist. Wir müssen ihn nur re-animieren, diesen Geist, dann finden wir auch wieder heraus aus unserer Sackgasse. Java hat mich inspiriert. Was ich erleben durfte, hat meine Weltsicht fundamental erweitert. Wenn ich mit R.M. Altianta am heiligen Brunnen im Palast meditiere, öffnet sich diese Schatztruhe wieder und wieder. Der Quell ist noch nicht versiegt.