Lebendige Bausteine. Der Wandvorhang „Kihaab“, der in ihrer Zeit in Mexiko entstand, ist an dieser Stelle nicht nur für sie selbst ein identitätsstiftendes Werk. In ihrer eigenen Kultur sei das Kunstverständnis vielfach nicht ausgeprägt genug, erzählt sie. Diese Wahrnehmung spiegelt auch eine allgemeine Problematik am globalen Kunstmarkt wider: Handwerk wird auch nach wie vor und unabhängig vom künstlerischen Gehalt weitgehend nicht als Kunstkategorie akzeptiert und in Museen und Galerien wenig präsentiert. Seit einigen Jahren findet hier allerdings ein substanzielles Umdenken statt: Textilkunst wird auch am globalen Kunstmarkt ein immer wichtigeres Thema, und die Grenzen zwischen Handwerk und Kunst scheinen mehr und mehr zu verschwimmen. Für Beatriz Morales steht diese Entwicklung ganz im Sinne der eigenen Philosophie: „Mir liegt daran zu zeigen, dass die Rohstoffe, die wir haben, unsere Kultur und Traditionen transportieren und kommunizieren. In meiner Kunst werden sie zu lebendigen Bausteinen”, so Morales.
Gegenpol Berlin. Neben der intensiven Arbeit in Mexiko ist das Leben in Berlin für die Künstlerin ein wichtiger Gegenpol, ein urbaner Kontrast, der sich ebenso in der Kunst widerspiegelt. Während man sich in Mexiko viel in der Gemeinschaft bewegt, kann sie sich in ihrem Atelier in Schöneberg zurückziehen und konzentriert arbeiten. In beiden Welten angekommen, hat sich Morales nach eigener Aussage dem „Stereotyp der mexikanischen Künstlerin, die nur Wassermelonen malt“, entzogen. Berlin gab ihr die Möglichkeit, von null anzufangen und sich mit der Frage zu beschäftigen: „Wer bin ich eigentlich, außer Mexikanerin, außer eine Frau – und vor allem, welche Kunst will durch mich geschaffen werden?” So entwickelte die Künstlerin über die Jahre in absoluter Eigenregie einen ganz eigenen, facettenreichen und interdisziplinären Stil: „Zu Beginn ist meine Arbeit vor allem intuitiv, aber oft verstehe ich Jahre nachdem ich ein Werk gemalt habe, worum es mir damals ging. Etwas drängt an die Oberfläche und in unser Bewusstsein. Was kann das sein? Ich habe in Berlin in vielen Wohnungen gelebt”, erklärt sie. „Alles ist immer weiß gestrichen, aber oft reißen die Wände an einzelnen Stellen auf, der Putz blättert ab. Dann erkennt man, was darunter liegt, da ist eine Ahnung von den Menschen, den Familien, die auch einmal in dieser Wohnung zu Hause waren.”
Das Gefühl der Geschichte. Sie sei fasziniert von dem Gefühl der Geschichte: „Berlin hat viel davon, und auch eine wahnsinnig schwere Vergangenheit.“ Morales versteht diesen Geist des Vergangenen als eine Präsenz, die es sich zu erkunden lohnt. Nicht die alten Geschichten müssen an die Oberfläche, sondern die Energie des Ortes, mit seiner Schwere und Leichtigkeit, mit all dem rohen Leben, das er in sich trägt. Darin liegt auch jene Authentizität, die die drei wichtigen Orte im Leben der Künstlerin miteinander verbindet: Berlin, Beirut, Mexiko. Wie ein roter Faden zieht sich Morales‘ Gespür für ihre Umgebung und ihre Liebe zur Unvollkommenheit, zum Umbruch und Aufbruch durch ihr Leben und auch durch ihre Kunst.
Shows in Dallas und Zürich. Nun wird Beatriz Morales wieder einen Teil Mexikos mit nach Europa bringen. Aktuell bereitet sie sich auf ihre nächsten Ausstellungen im Studio Slow in Zürich und die Kunstmesse Dallas Art Fair vor, die für September und November geplant sind.Während die monumentale Faserkunst-Installation „Kaan / Kihaab“ im Museo MACAY in Mérida, Mexiko ausgestellt ist, wird die Künstlerin in der Schweiz Agavenfaserwerke in kleinerem Format zeigen. So verwebt Morales in ihrem Œuvre die Fäden der Kaktusfasern mit den Strängen ihrer interkulturellen Identität zu einem Gesamtkunstwerk, in dem sie die eigenen Wurzeln erkundet, dabei Natur und Urbanität gleichermaßen integriert, und so immer neue Reflexionen über das Wesen von Heimat in unserer globalen Gesellschaft zulässt.
Fotos: Dorian Ulises López Macía