Den Himmel stelle ich mir als eine Art Abend vor, auf der Terrasse eines alten Caffès oder an einer Hotelbar. Mittelmeerblaue Stunde mit Planetenlaternen zwischen Triest und Turin und die Luft dann so wie sie nur ein Land zwischen Norden und Süden hervorbringt, in dem Leute gerne Bravo sagen. Ein paar Tische mit weißen Decken und davor der Platz. Ein bisschen Dunst. Das Gefühl, am Leben zu sein. Ab und an ein Kellner, der kommt, und einen Drink bringt und der Moment beginnt von vorn.
Die Stunde des Aperitifs. Eine Frau geht im Abendkleid über den Platz auf mich und den Drink zu. Sie geht durch das Licht von Lagerhallen und Palästen, das Licht einsamer Laternen am Kanal. Ihre Ohrringe funkeln und ihr Haar weht im Wind, der auch die Boote im Wasser aufscheucht und die eitlen Paläste daran hindert, sich darin zu spiegeln. Glockenschlag! Endlich. Die Stunde der Aperitifs ist gekommen. Das Vorspiel beginnt, die Erlebnisverlängerung, der Moment vor allen anderen Momenten, einem Abendessen oder so. Es ist ein Passieren, das vor dem eigentlichen Passieren beginnt: Aperitivo, bravo.
Feier des Lebens. Es sind schwerelose Stunden zur Feier des Lebens, die entstehen, wenn man gerade erst von der Arbeit kommt oder sich im Urlaub von einem bestimmten Gefühl befreit hat und geduscht und eingecremt und im Anzug auf der Terrasse sitzt und auf seine Frau wartet, weil die sich noch länger frisch machen muss. Es ist ein wunderbares Gefühl mit einem Drink auf jemanden zu warten, den man liebt. Man sieht die Schiffe kommen oder man sieht sie nicht, ist gespannt, erfährt vom Barmann schon mal alles über die besten Restaurants und den frischesten Fisch und den neuesten Tratsch. Man genießt die Zeit und freut sich, wenn sie dann kommt, anstatt zu schreien, warum sie wieder so spät ist.
Aber wieso Triest, warum Turin? Ich habe schon an vielen anderen Bars auf sie gewartet und auf Berge und Meere und Plätze geguckt; an Küsten und Seen, in Städten gesessen. Bologna, Riviera, Madrid. Lago di Como, Madeira, St. Petersburg und Wien. Ich glaube, weil wir gerade da waren und beide mit T beginnen. Außerdem wurde Wermut in Turin erfunden und somit der Aperitif und nirgends ist der heiliger als in Triest. Mindestens zwei Mal täglich. Manche sagen, die Stadt war einmal, ich find, sie ist noch, und wie. Triest wirkt wie eine Gemeinschaft aus Leuten, die gerne Alkohol trinken und eine Stadt gegründet haben, um sich nach dem Spaziergang auf ein Glas zu treffen. Oder fünf. Es ist ein guter Ort für die Liebe und das Leben. Beide finden auf den Straßen statt, nicht zu Hause mit Möbeln. Die Alten gehen hier pro Tag einmal die Mole rauf bis ins Nichts. Warten, dass der Tag dort auf Abend trifft und sie gesegnet trinken dürfen. Atmen den Abend ein und alles, sehen die Stadt von Weitem, das ganze Kleine, als großes Ganzes. So ein Blick auf Triest, sagen sie, ist ein Blick auf jenen Bereich der Seele, wo alle Gewissheit schwindet. Danach geht man ins Café und nimmt seiner Frau den Mantel ab, sitzt da und trinkt. Bespricht die Lage. Aperol Spritz bitte. Danach dann Abendessen. So kann die Liebe zu Dauer werden.
Aperol Spritz ist unter den Aperitivi ein bisschen das, was Krimis für viele Verlage sind. Sie kosten nichts, werden gut verkauft und finanzieren den Rest. Klar trinkt der sich gut, an heißen Tagen, auf den Terrassen Capris, mit all dem Orange im Glas und dem Blau drum rum. Er ist die perfekte Entschuldigung, um sich zu treffen, aber nicht unser Ding. Wir trinken gerne portugiesische und italienische Schaumweine, muss kein Champagner sein und bloß keine Lambrusco.
Champagner interessiert mich überhaupt nicht. Außer man spritzt sich damit ab. Ich liebe Wein, der natürlich in Flaschen gärt, bis zu drei Bar und noch mit einem Kronkorken verschlossen wird. Primeiras Gotas ist ein gutes Beispiel, ein portugiesisches, aus der Nähe von Torres Vedras. 100 % Muskateller und mit Liebe für heiße Nächte gemacht, in denen man im Sommerkleid, in Straßen, an Wänden lehnt. In Portugal werden die Drinks aber noch ohne die kleinen Happen serviert, die man an den Bars von Grand Hotels bekommt oder überall von Turin bis nach Triest. In jedem Drecksloch. In Triest geht das so weit, dass manchmal das Abendessen draufgeht. Das sollte natürlich nicht passieren. Aber wen interessiert‘s. Vieux Carré ist auch wunderbar, besteht aus Rye Whiskey, Cognac, Wermut und Bénédictine, eigentlich zu stark für einen Aperitif. Er soll einen ja in den Himmel tragen und nicht am Boden halten, bevor das Eigentliche beginnt. Pastis ist auch zu stark, deshalb trinkt man ihn mit Wasser. Dann schmeckt man das Starke nicht, sondern spürt es nur. Für mich beide bessere Digestifs. Nach einem langen Lunch im Schatten von Maulbeerbäumen und Platanen. Wenn die Arbeit ruht und nur die Bienen noch Kraft haben, ein Weinkühler in der Hitze schwitzt und sich Sonnenflecken auf rotweißkarierten Tischen noch nicht abgeräumter Gelage hin und her bewegen. Man kann die dann solange weitertrinken, bis wieder Aperitivi aus ihnen werden. Man nimmt die ganz schöne Schwere mit, die einen nach einem solchen Mittagessen auf der Erde hält und wirft ein paar Kugeln Boccia mit den Alten vor einem Café. Die Hände zufrieden hinter dem Rücken verschränkt, eine grüne Markise, kalte Espressotassen im Sand, ein bisschen diskutieren, wer jetzt gewonnen hat, aber nur so, dass sich ein Zigarillostummel im Mund halten kann.
Sprezzatura. Je älter man wird, desto mehr genießt man und schüttet nicht mehr wahllos etwas von allem in sich hinein. Man tut es in einer Reihenfolge und so gut man eben kann und so, dass man es so lange wie möglich machen kann. Wie bei allen Künsten wächst der Genuss mit dem Wissen um die Kunst. Aperitivotrinken muss man lernen. Den Weg dorthin nennen die Italiener Sprezzatura. Aber nicht jeder hat um 17 Uhr dafür Zeit. Am Anfang ist es so wie Jazz mit 14, unglaublich cool, aber ungenießbar. Irgendwann findet man dann heraus, wie viel Benutzung ein bestimmter Teil seines Körpers aushält, testet die Grenzen mit Tequila. Das geht bei den meisten vorbei und bei manchen nie und die tun mir leid. Man weiß irgendwann einfach, was man nicht mag, und was man mag und das ganz besonders. Je mehr man es mag, desto schneller geht es vorbei, so wie das ganze Leben. Daher hat man eine Vorfreude eingeführt, die sich die hohe Kunst des Aperitivotrinkens nennt. Und Wermut ist ihr bester Vertreter.
Wermut wurde vom Italiener Antonio Carpano erfunden und seit 1786 in Turin vertrieben. Heute ist seine Fabrik in Mailand und darf sich nicht mehr Vermouth di Torino nennen. An der alten kommt man aber immer noch vorbei. Carlo Alberto dagegen ist noch ein Original, aber leider nicht so gut wie Carpanos Antica Formula. Ende des 18. Jahrhunderts erlebte der Likörwein seinen kanonischen Moment, als man ihn vor den Mahlzeiten mit einigen Häppchen servierte. Für die Frauen jener Zeit waren diese Nachmittagsstunden in den Konditoreien, vor einem Glas, die einzigen freien Momente, da es die Turiner Mode jungen unbegleiteten Frauen erlaubte, sich auf ein Glas Wermut zu treffen, ohne Etiketten zu brechen. Das hat mir alles Paulo erzählt, ein geduldiger Barmann aus dem Splendido in Portofino. Von ihm weiß ich alles, was ich über Wermut weiß und Turin.
Er empfahl uns das Caffè Torino und einen Al Bicerin und dass wir unbedingt bei Da Marco essen. In Turin ist das Meer aber nicht mehr nur die Straßen runter, so wie in Triest. So richtig spannt sich dort nichts an und entspannt auch nicht auf Stufen oder Plätzen. Komische Stadt. Manchmal wie eine Bühne, auf der nichts aufgeführt wird. Puccini, Nietzsche, Dumas, aber Cavour musste ich googeln. Die Stadt strahlt nicht in den Farben der Dinge, nur die Morgen über der Stadt sind Campari Orange. Trotzdem ist das eine Geschichte ohne Negronis. Ansonsten ist Turin viel dunkles Holz und abgebröckelte Wermutschriftzüge, nachtgrüne Maulbeerbäume im Laternenlicht italienischer Innenhöfe.
Paulo erzählte mir in Portofino davon und ich erzählte ihm von San Sebastián, denn ohne San Sebastián hätte es Triest und Turin nie gegeben. Dort trank ich meine ersten Martinis, aber in Portofino lernte ich von Paulo, dass Martinis gar keine Martinicocktails sind, sondern Zuckerzeugs. Wermut wird aus weißen Trauben gemacht, in Turin traditionell aus Muskateller oder Clairette. Die Farbe entsteht durch den Zuckergehalt. Trocken um die 30, weiß bis 50, Rosso ab 130 Gramm pro Liter. Dazu 35 Kräuter, aus dem Piemont, vor allem Absinth und Artemisia (Beifuß), so richtig weiß das keiner außer Carpano. Die Balance der Gegensätze bestimmt die Beziehung zwischen den Geschmäckern.
Aber bei all den hochtrabenden Reden: Die besten Zutaten, für einen Drink, sind immer noch getane Arbeit oder gemachte Liebe, gute Gesellschaft und heiße Tage, ein Mixer, der was kann und sich in der Welt rumgetrieben hat, ein gutes Ambiente, Harrys Bar ganz weit weg, Oliven, Kartoffelchips und Nüsse, ein Ausblick, und jemand, mit dem man den gucken kann; ein guter Gedanke, das Abendessen nicht mehr weit, Triest und Turin, und Zigaretten.